Israels Kriegspolitik und ihre ideologischen Wurzeln

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Einleitung

Schon in vorstaatlicher Zeit – lange vor dem Jahr 1948 – hatten militante jüdische Zionisten begonnen, kriegerische Organisationen zu gründen, allen voran im Jahr 1920 die Untergrundmiliz Haganah. Alles war auf ihr Ziel ausgerichtet, in Palästina auf Basis militärisch befestigter jüdischer „Kolonien“ einen unabhängigen jüdischen Staat zu gründen. Aus Osteuropa eingewanderte, nichtreligiös-marxistisch motivierte „Linkszionisten“ wie David Ben-Gurion konkurrierten jahrzehntelang mit bürgerlichen „Rechtszionisten“ wie dem im Russischen Reich geborenen Wladimir Ze’ev Jabotinsky. Welche Strömung würde sich langfristig durchsetzen und auf Basis welcher politischen Ideologie?

Die folgende Untersuchung aus gegebenem Anlass zeigt die Wurzeln jener militanten zionistischen Ideologie auf, deren Entwicklung schlussendlich zu Benjamin Netanjahus letztem Vernichtungskrieg führte, der ab Oktober 2023 auf dem dicht besiedelten, nur 360 km² schmalen Gaza-Küstenstreifen in diesem uralten Kulturraum kaum einen Stein auf dem anderen lässt und das Ende des bisherigen Zustands besiegelt.

Steht ein Paradigmenwechsel im Nahostkonflikt bevor?

Als der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der Spanier Josep Borrell, im Jänner 2024 in Valladolid (Spanien) die Ehrendoktorwürde entgegennahm, erklärte er:

„Wir glauben, dass eine Zwei-Staaten-Lösung [israelisch und palästinensisch] von außen aufgezwungen werden muss, um Frieden wieder zu bringen. Selbst wenn, und ich bestehe darauf, Israel seine Ablehnung [dieser Lösung] bekräftigt und, um sie zu verhindern, so weit gegangen ist, die Hamas selbst zu gründen... Die Hamas wurde von der israelischen Regierung finanziert, um die Palästinensische Autonomiebehörde Fatah zu schwächen. Aber wenn wir nicht entschlossen eingreifen, wird sich die Hass- und Gewaltspirale von Generation zu Generation, von Begräbnissen zu Begräbnissen fortsetzen.“

Ungeachtet dessen, was Borrell an politischen Positionen ansonsten vertritt, brach er auf diese Weise mit dem offiziellen westlichen Diskurs, wonach der Hauptfeind Israels die Hamas sei, die es am 7. Oktober 2023 angegriffen hat, sodass dies die israelische Reaktion eines multifachen Massakers im Gazastreifen pauschal als „Selbstverteidigung“ rechtfertige.

Josep Borrell ist darin wohl recht zu geben, dass eine Lösung „von außen aufgezwungen werden muss“, da die militant-zionistischen Machthaber – ob links oder rechts – wohl niemals in ihrer Geschichte ohne Druck „von außen“ zum Rückzug ihrer Expansionsbestrebungen bereit gewesen waren. Mit „Antisemitismus“ hat dies nichts zu tun, auch wenn die israelische Administration stets bemüht ist, dieses Motiv zu unterstellen, wenn es um Druck und Boykottmaßnahmen gegen ihre Palästinenser-feindliche Politik geht.

Der Hauptfeind des israelischen Volkes

Der primäre Hauptfeind Israels, insbesondere seiner demokratisch engagierten jüdischen und arabischen Bürger und Bürgerinnen, ist in der Tat die eigene Regierung in Jerusalem, eine veritable Ausgeburt des rassistisch-religiösen Neozionismus und der späten Legitimierung des Kahanismus. Das im Dezember 2022 vereidigte Regierungskabinett Netanjahu VI wurde wegen seiner rassistischen Positionen und Minister zunächst weltweit brüskiert (sogar durch den US-amerikanischen Präsidenten) – aber nur bis einschließlich 6. Oktober 2023. Denn im Gefolge des 7. Oktober bildete Benjamin Netanjahu ein „Notkabinett“ („Kriegskabinett“), das seither geradezu hofiert und bis dato (Ende Jänner) mehr oder weniger bedingungslos unterstützt wird – eine Ironie der Geschichte.

(Mehr darüber: „'Gaza-Nakba 2023' – Ein epochaler Nahost-Wendepunkt in zweifacher Hinsicht“.)

Wurzel Nr. 1: Der „revisionistische Zionismus“

Es empfiehlt sich, die ideologischen Wurzeln des herrschenden Paradigmas zu untersuchen; sie reichen zurück bis zu Wladimir Ze‘ev Jabotinsky (1880-1940), dem Begründer des „revisionistischen Zionismus“ (1925) und seiner Jugendmiliz Betar (1923).

Jabotinsky forderte einen jüdischen Staat zu beiden Seiten des Jordanflusses (darum „revisionistisch“, weil die politische Abtrennung des Ostjordanlandes vom westlichen Palästina „revidiert“ werden sollte) und eine großangelegte jüdische Einwanderung mit dem Ziel, die Jüdische Diaspora in Europa aufzulösen und eine jüdische Bevölkerungsmehrheit zu erreichen, sowie eine starke jüdische Armee zu gründen. Das Programm sah vor, dass die Kultur des neuen Staates auf jüdischen Wertvorstellungen basieren sollte, mit Hebräisch als Staatssprache.

In seinem Essay „The Iron Wall“ (1923) skizzierte Jabotinsky vier Schritte: (1) Aufbau einer rechtlichen und militärischen Mauer, (2) Verteidigung der Mauer, (3) schmerzhafte Niederlagen des Gegners – diese drei Schritte wurden umgesetzt –, danach aber – im 4. Schritt – Verhandlungsbereitschaft gegenüber moderaten Kräften mit dem langfristigen Ziel einer politischen Autonomie der Araber innerhalb eines jüdischen Staates.

Doch daraus wurde nichts, wie weiter unten gezeigt wird.

Während der arabischen Aufstände 1936 bis 1939 übernahm Jabotinsky 1937 das Oberkommando über die Untergrundmiliz Irgun, die Attentate auf Araber und Briten mit dem Ziel der Schaffung einer jüdi­schen Mehrheit in Palästina verübte. Im Laufe der 1930er Jahre wurde Menachem Begin zu einem seiner wichtigsten Schüler und Anhänger (dieser übernahm Anfang 1944 die Führung der Irgun). Jabotinsky begeisterte sich für das faschistische Italien und gründete mit Unterstützung des Duce Benito Mussolini eine Militärakademie für Betar in der Nähe von Rom.

Im Februar 1940 ging Jabotinsky in die USA, um für eine jüdische Armee zu werben. Dort machte er einen seiner Anhänger zu seinem Privatsekretär, der als revisionistische Führungsfigur der zionistischen Bewegung in den USA tätig war – sein Name: Benzion Netanjahu (geb. Mileikowski, 1910-2012), der Vater von Benjamin Netanjahu, Historiker, Mitherausgeber der Monatsschrift Betar und ab 1934 Herausgeber der revisionistischen Tageszeitung Ha-Yarden in Jerusalem. Wegen seiner ultrarechten Position blieb Benzion Netanjahu eine politische Karriere in Israel verwehrt – auch er war wie Jabotinsky Anhänger der Idee eines revisionistischen Großisrael. Sabine Brandeis zitierte in ihrem Nachruf (The Herald, 10. Mai 2012) Benzion Netanjahus rassistische Einstellung gegenüber den Palästinensern:

„Die Neigung zum Konflikt liegt in der Natur des Arabers. Er ist der geborene Feind. Seine Persönlichkeit erlaubt ihm keinen Kompromiss. Es spielt keine Rolle, auf welchen Widerstand er stößt, welchen Preis er bezahlen muss. Er befindet sich in einem Zustand des immerwährenden Krieges.“

Doch statt der Strategie Jabotinskys (s. o.: 4. Schritt) zu folgen, verfolgten die militanten Zionisten das Ziel, weitere Gebiete zu beanspruchen, und schlugen Verhandlungsangebote der Araber zugunsten ihrer expansionistischen Politik aus. Damit sei Israel von der ursprünglichen Position der Durchsetzung klarer und minimaler Forderungen abgewichen und habe sich zu einer Politik der Maximalforderungen aufgrund der vermeintlichen Überlegenheit entwickelt, die konträr zu Jabotinskys Strategie offener Verhandlungs­bereitschaft gewesen sei, schrieb der in den USA 1949 geborene Politikwissenschaftler und Nahost-Historiker Ian S. Lustick 1998 (Ian Lustick: „To Build and To Be Built By: Israel and the Hidden Logic of the Iron Wall“. In: Israel Studies, Bd. I, Nr. 1, Sommer 1996, S. 199 ff) in seiner Analyse des oben genannten Essays „The Iron Wall“.

* (Mehr darüber: „Schikanieren, vertreiben, töten – 100 Jahre Genozid am palästinensischen Volk. Die wahre Geschichte des real existierenden Zionismus – der rote Faden von 1920 bis 2020 (mit Augenzeugenberichten)“)

Wurzel Nr. 2: Der talmudjüdische Kabbala-Messianismus

Zwei Schlüsselereignisse begünstigten diese Politik, die gegenüber Jabotinskys Absicht einer politischen Autonomie der Araber innerhalb eines jüdischen Staates (s. o.) entgegengesetzt war:

1. Der Sechstagekrieg 1967 löste nach der militärischen Besetzung des Westjordanlandes den Beginn der rabbinisch-jüdischen* Besiedlung durch die religiöse Siedlerbewegung aus, die der messianistisch-fundamentalistischen Ideologie vom „göttlichen Erlösungsprozess“ des Landes (Eretz Israel) der beiden Rabbiner Abraham Isaak Kook (1865-1935) und seinem Sohn Zwi Jehuda Kook (1891-1962) folgte („Neozionismus“).

* Das „Judentum“, wie wir es heute kennen, ist eine essenziell neue Form der Religion gegenüber jener der Zweiten Tempelperiode, die im Jahr 70 CE (n. Chr.) mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und dem Untergang des aaronitischen Priestertums abrupt und    unwiderruflich endete. Das entsprach zwar dem Schriftverständnis derer, für die dieser Kultus durch das stellvertretende Opfer Jesu Christi erfüllt war (s. Hebräerbrief des Neuen Testaments). Überlebende pharisäische Rabbinen jedoch schufen im darauffolgenden Jahrhundert eine neue Religion auf Basis außerbiblischer Überlieferungen, Gebräuche und Riten, um die bisherigen Funktionen des Tempeldienstes zu ersetzen. Zudem änderten sie die Abstammungsregel, wer ein „Jude“ sei, von der biblischen Patrilinearität auf die mütterliche Linie ab. Diese neue Religion wird zwecks Unterscheidung vom Judentum der biblischen Zeit als „rabbinisches Judentum“ bezeichnet. Damit scheiden ihre Anhänger als Erben alttestamentlicher Verheißungen aus, sodass der „historische und biblische“ Allein­anspruch auf Landbesitz der Zionisten auf einem willkürlichen, unwissenschaftlichen Mythos beruht. (Mehr darüber: „Der Anspruch des Neozionismus auf Alleinbesitz Palästinas und seine Rechtfertigung auf dem Prüfstand der Hebräischen Bibel. Eine bibelexegetische Studie mit geopolitischer Tragweite“).

Auch die verbreitete Vorstellung von der „Vertreibung des jüdischen Volkes vor 2000 Jahren“ wird durch die historischen und genbiologischen Fakten entkräftet. (Mehr darüber: „Die Demaskierung der zionistischen Abstammungslüge – Jüdischsein liegt nicht in den Genen.“

2. Ab 1977, dem Wahlsieg des Mystik-affinen Oppositionsführers Menachem Begin, der in der Folge zum Ministerpräsidenten der politischen Wende von „links“ nach „rechts“ wurde, zeigten sich alsbald diese Ziele offen.

In der Neuauflage von 2014 seiner Schrift „The Iron Wall: Israel and the Arab World“ (1999) zog der Historiker Avi Shlaim, einer der sogenannten „neuen Historiker“ der israelischen Geschichte, das Fazit, die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) hätten sich „in die Polizeigewalt einer brutalen Kolonialmacht verwandelt“. Diese Entwicklung wurde Jahr für Jahr immer virulenter und eskaliert seit Israels jüngstem Gaza-Krieg. Dokumentation (2024): „Israeli police repressing anti-war protests with 'iron fist’”.

Die Rolle des Militär-Rabbinats bei der „Heiligsprechung“ der Kriege Israels

Diese Entwicklung zum Faschismus und zum Polizeistaat Israels ist einem zunehmenden Einfluss der talmudisch-kabbalistischen Religion auf die israelischen Streitkräfte geschuldet. Dabei ist der Hinweis wichtig, dass insbesondere seit der paradigmatischen politischen Wende 1967/1977 eine Unzahl von kookistisch orientierten Jeschiwas (Talmud-Hochschulen) entstanden ist und daraus zehntausende rechtsextrem-ultranationalistische Absolventen, Rabbis und Politiker wie etwa der gegenwärtige Finanzminister Bezalel Smotrich* hervorgegangen sind.

* (Mehr darüber: „Israel in Geiselhaft der religiösen Zionisten. Antworten auf den Suprematismus des Neozionisten Bezalel Smotrich“)

Dazu drei aktuelle Beispiele:

1.  Dov Lior ist Leiter der Religionsschule (Jeschiwa) Shavei-Hevron Yeshiva und Rabbiner von Kiryat Arba, einer radikalen jüdischen Siedlung und Brutstätte für jüdischen Terrorismus nahe der besetzten palästinensischen Stadt Hebron. Er ist auch Vorsitzender des Rates der Rabbiner von den Besetzten Gebieten. Liors Haltung gegenüber Nichtjuden zeigt sich beispielsweise darin, wie er die Soldaten instruierte, während er bei der IDF (Israel Defense Forces) als oberster Rabbi diente: „In Kriegszeiten gibt es keine Zivilisten“, „eintausend nichtjüdische Leben sind nicht so viel wert wie ein jüdischer Fingernagel.“

2.  Col. Ofer Winter, ehemaliger Kommandeur der Givati Brigade, war von der Talmud-Hochschule mit einer erzieherischen Mission in die Armee eingetreten, um sie dahingehend zu beeinflussen. Bekannt geworden ist sein Gebetsaufruf an seine Soldaten während der Operation Starker Fels (2014 gegen Gaza), den der Soziologieprofessor Yagil Levy folgendermaßen kommentierte:

„Winters Statement zeigt ganz klar, dass der Krieg in Gaza ein heiliger Krieg ist und zu Gottes Ehre geführt werden muss. Wie er es sieht, ist eine Attacke auf Israel eine Attacke auf Gott. In Winters Krieg gelten andere Regeln. Es ist ein heiliger Krieg. […] Ein Krieg, der in religiösem Geist geführt wird, bietet eine volle Rechtfertigung, den Märtyrertod zu erleiden. […] In der Terminologie dieser Art von Krieg sind die Palästinenser 'Philister', und hernach gibt es keine Philister mehr in dem Land. Diese Art von Krieg könnte sogar ethnische Säuberung rechtfertigen.“

Der Gaza-Krieg war von 2014 nach Yigal Levys Analyse nicht einfach eine Operation zur Wiederherstellung der Ruhe in diesem Sektor, sondern ein Rachefeldzug gegen jene, die Gott lästerten, weil sie Israel attackiert hatten.

3. Rabbi Avichai Rontzki, Brigadegeneral und Chef des Militärrabbinats, hatte während des vorangegan­genen Gaza-Krieges, der Operation Gegossenes Blei (2009), gegenüber den Armeesoldaten den Feind als „Amalek“ präsentiert.

„Amalek“ wird als Chiffre für Israels mythische Todfeinde bis in alle Ewigkeit gebraucht. Beispielsweise wurde Jassir Arafat von 200 Rabbinern nach seinem Tode als „Amalek und Hitler unserer Generation“ bezeichnet und der Vorschlag gemacht, seinen Todestag als „Freudentag“ zu feiern.

(Mehr darüber: „Welchen Wert misst die nationalreligiös-fundamentalistische Orthodoxie dem Leben nichtjüdischer Menschen bei? Eine Studie zum Verständnis des israelischen Chauvinismus anhand seiner religionssoziologischen Wurzeln und die Auswirkungen auf Israels Militarismus und sein Demokratieverständnis.“)

Apropos „Selbstverteidigungsrecht“

In diesem Kontext ist auch das Argument des israelischen Kriegskabinetts vom „Selbstverteidigungsrecht Israels“ gegen die Hamas zu betrachten, das von ihm reklamiert und auch nach über hundert Tagen des vernichtenden Angriffskriegs aufrechterhalten wird.

Dazu stellte die finnische Außenministerin Elina Valtonen in einem am 25. Jänner 2024 veröffentlichten Interview mit der deutschen Mediengruppe RND fest, dass die Zeit für Israels „Selbstverteidigung“ vorbei sei, und forderte einen sofortigen Waffenstillstand:

„Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Genug ist genug, die Zivilbevölkerung in Gaza braucht einen sofortigen humanitären Waffenstillstand. Der Krieg im Nahen Osten hat dazu geführt, dass eine Eskalation nicht nur bevorsteht, sondern bereits eingetreten ist. Die Situation eskaliert, vor allem innerhalb der Staaten: Extremistische Gruppen und Terrororganisationen wie die Houthis am Roten Meer gewinnen an Zulauf. Das müssen wir stoppen.“

Die israelische Botschafterin in Finnland, Hagit Ben-Yaakov, konterte umgehend, indem sie Valtonens Äußerungen scharf verurteilte: „Die Zeit der Selbstverteidigung ist vorbei, wenn die 136 Unschuldigen, die die Hamas in ihren Terrortunneln gefangen hält, freigelassen und in ihre Häuser zurückgebracht werden“, argumentierte sie und fügte hinzu: „Das Recht auf Selbstverteidigung ist das inhärente Recht aller Länder, es kann nicht ins Wanken gebracht werden. Es ist immer da, um sie vor Schaden zu bewahren.“

Aber kann die Verschleppung von Geiseln durch Terroristen in ein extraterritoriales Gebiet die weitestgehende Zerstörung der Infrastruktur des gesamten feindlichen Territoriums unter unbegrenzter Inkaufnahme zehntausender ziviler, ebenfalls unschuldiger Todesopfer und Verletzter rechtfertigen, und dies, solange nicht buchstäblich alle Geiseln zurückgekehrt sind?

Militärstrategisch betrachtet hatte jedoch der Staat Israel spätestens am 11. Oktober – somit vier Tage, nachdem er auf seinem Staatsgebiet überfallen worden war – seine Selbstverteidigung abgeschlossen, als sich nur noch tote oder gefangene Gegner auf seinem Gebiet befanden. Was die Armee auf extraterritorialem Gebiet (Gaza) seither betreibt, ist ein vom ersten Tag an entfesselter, vernichtender „Rachefeldzug“, wie er von der Regierung ausdrücklich angekündigt worden war. Dieser expansionistische Wahn der Messianisten, die die Situation für einen neuerlichen Schritt in Richtung halachisches „Großisrael“ auszunützen versuchen, ist daher durch ein „Selbstverteidigungsrecht“ nicht gedeckt. Yagil Levy hatte am 9. Dezember in der renommierten Tageszeitung Ha‘aretz festgestellt:

„Die israelische Armee hat die Zurückhaltung in Gaza aufgegeben, und die Daten zeigen ein beispielloses Töten.“

Amira Hass (Ha‘aretz) wies am 18. Dezember auf diese systematische und massenhafte Auslöschung hin:

„Das israelische Militär löscht die Straßen der Städte des Gazastreifens und die Gassen der Flüchtlingslager aus. Es vernichtet die Strandpromenaden, die Dörfer und die noch unerschlossenen landwirtschaftlichen Flächen des Gazastreifens. Es vernichtet seine kulturellen Einrichtungen, Universitäten und archäologischen Stätten.“

Gideon Levy (Ha‘aretz) schrieb am 14. Jänner:

„Wenn es sich nicht um einen Völkermord handelt, was ist es dann?“

Auch ein mutwilliges Überfahren und Zerstören von Gemüsefeldern mit israelischen Panzern kann nicht als Akt der „Selbstverteidigung“ anerkannt werden, sondern ist eines von vielen Indizien für die genozidale Absicht des amtierenden Regierungskabinetts von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Zusammenfassung

Zusammenfassend beruht die unbeirrbare Politik der aktuell Regierenden – vereinfacht gesagt – auf der Amalgamierung vor allem zweier Elemente: (1) Jabotinskys Konzept der „Eisernen Mauer“ (Iron Wall) und (2) das kabbalistisch-metaphysische Konzept der Kook-Rabbis vom eschatologischen „Erlösungsprozess“ des „heiligen Landes“ und des „heiligen Volkes“, verstärkt durch die wiederauflebenden und nunmehr offenbar legitimierten Vertreibungsphantasien des Rabbi Meir Kahane (1921-1990) und seiner messianistischen Epigonen, die heute die Knesset bevölkern und die Regierung bilden, allen voran der Minister „für die Nationale Sicherheit Israels“ Itamar Ben-Gvir.

Epilog

Es liegt auf der Hand, dass um der journalistischen Ausgewogenheit willen gerade dann, wenn auf der einen Seite von der „radikal-islamischen Hamas“ gesprochen wird, die Gegenseite analog als „radikaltalmudjüdische Kräfte“ bezeichnet werden sollte, statt schlicht von „Israel“ zu reden. Denn so wie das palästinensische Volk als Ganzes keinesfalls mit „Hamas“ gleichgesetzt werden darf, muss ebenso grundsätzlich zwischen den radikal-militanten Neozionisten und jenen Israelis – Juden wie Nichtjuden – unter­schieden werden, die gewaltfrei und auf demokratischer Basis für das Ende der Besatzung und die rechtliche Gleichstellung aller Menschen zwischen Fluss und Meer kämpfen.

Fritz Weber, 26. Jänner 2024, benaja [at] gmx.at