Tunnel als Lebensader

Ermutigt dazu hat ihn weder die deutsche Botschaft in Israel noch die israelische Botschaft hier. Trotzdem fuhr der Bundestagsabgeordnete Norman Paech nach Gaza. Es war seine letzte Dienstreise als außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Dem neugewählten Parlament gehört er nicht mehr an. Dies ist sein Bericht.

Das Auswärtige Amt riet mir – wie immer – aus Sicherheitsgründen dringend von dem Besuch ab. Es folgten langwierige Mail- und Telefonkontakte mit dem Auswärtigen Amt, der deutschen Botschaft in Tel Aviv und der israelischen Botschaft in Berlin. Letzterer erläuterte ich zudem in einem persönlichen Gespräch meinen detaillierten Reise- und Gesprächsplan.Beide Botschaften erklärten sich schließlich bereit, mein Einreisegesuch nach Gaza bei der israelischen Regierung zu unterstützen. Bedingung allerdings war, »der israelischen Seite zweierlei zu versichern: Im Gazastreifen werden keine Kontakte mit der Hamas wahrgenommen; und beim geplanten Aufenthalt in Bi'ilin sind keine Aktivitäten geplant, die zu Zusammenstößen mit der israelischen Armee oder anderen israelischen Sicherheitsorganen führen könnten«.

 

 

Beide Bedingungen konnte ich akzeptieren, da ich ohnehin keine Kontakte mit der Hamas vorbereitet hatte und an Zusammenstößen mit der israelischen Armee schon aus Gründen der eigenen Gesundheit kein Interesse hatte. Ich gab jedoch zu bedenken, dass ich nicht jeden meiner möglichen Gesprächspartner in Gaza vor der Begrüßung fragen könne, ob er in der Hamas organisiert sei. Die deutsche Botschaft bot mir daraufhin an, mich in einem gepanzerten Botschaftswagen im Gazastreifen zu transportieren, was ich jedoch ablehnte. In Gaza hatte das Deutsch-Palästinensische Ärzteforum, das vor kurzem dort ein Büro eröffnet hatte, mir angeboten, mich zu begleiten.

 

 

Angekommen am Erez-Checkpoint zwischen Israel und Gaza benötigte ich keine zehn Minuten, um durch die Passkontrolle in das von der niederländischen Firma »Interwand« maßgeblich mitgestaltete neue Terminal zu gelangen. In der Internet-Präsentation preist »Interwand« sein Produkt als benutzerfreundlich an, welches »für die Bevölkerung im Gazastreifen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor« ist.

 

 

Diese »Produktinformation« ist von der Realität etwa so weit entfernt wie die Verheißung des Paradieses für die zukünftigen Märtyrer. Kein Wort über die Nacktscanner, unzähligen Überwachungskameras, stählernen Drehtüren, Panzerglas und Röntgengeräte. Gegenwärtig passieren dieses futuristische Gebilde täglich lediglich Diplomaten, UN-Bedienstete, Mitarbeiter internationaler Organisationen und vereinzelt palästinensische medizinische Notfälle.

 

Patienten zum Arzt in die Nachbarländer

 

Nach einer halben Stunde entlassen uns die Gänge, Drehtüren und Tunnel in die Realität Gazas. Gleich rechts neben dem Ausgang liegen unverändert die Trümmer der ehemals von den Israelis erbauten Industriezone Erez, die sie selbst vor zweieinhalb Jahren mit Raketen und Bulldozern »aus Sicherheitsgründen« dem Erdboden gleichgemacht hatten, der Arbeitsplatz für rund 5000 Menschen.

 

Gesundheitsminister Dr. Basem Naim hat die Organisation der Treffen im Gazastreifen übernommen. Er informiert über die katastrophale Situation der Gesundheitsversorgung infolge der langjährigen Blockade und des Krieges im Januar.

 

Das UN-Koordinierungsbüro für Humanitäre Angelegenheiten berichtet regelmäßig über die akuten Mängel des Gesundheitssystems, sodass sich niemand auf Unkenntnis der Zustände berufen kann. Eines der zentralen Probleme ist der Finanzboykott, der auch von privaten Spendenorganisationen nicht aufgewogen werden kann, da mit ihren Spenden keine langfristige Finanzplanung möglich ist. An die 80 wichtige Medikamente fehlen völlig. Selbst im Ausland gekaufte Ersatzteile und Ausrüstungen, von Rollstühlen bis zu Röntgengeräten, können nicht importiert werden, da sie nach israelischen Kriterien nicht zu den humanitären Gütern gehören, die über die Grenze dürfen.

 

Auf Grund der unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten der Krankenhäuser müssen täglich zwischen 60 und 80 Patienten in die Nachbarländer Israel, Jordanien und Ägypten sowie ins Westjordanland geschickt werden. Die Schließung der Grenzen hat dazu geführt, dass 360 Patienten starben, weil sie den Gazastreifen nicht verlassen konnten. Der Krieg hat nicht nur 1400 Tote, sondern auch an die 6000 zum Teil schwer Verwundete und andauernd Behinderte hinterlassen. Den psychischen Folgen des Krieges und den starken Traumatisierungen steht man schon allein wegen fehlenden ärztlichen Personals machtlos gegenüber.

 

Ein weiteres zentrales Problem ist die völlig unzureichende Versorgung mit Energie. Israel hat im November 2008 die Lieferung von Benzin und Diesel gestoppt. Das einzige Kraftwerk Gazas, das etwa 55 Prozent des Stroms produziert, wird von der EU mit Diesel beliefert. Insgesamt ist jedoch die Stromversorgung so knapp, dass die Spannung permanent schwankt und der Strom im ganzen Gazastreifen regelmäßig zwischen 18 und 20 Uhr zusammenbricht. Die Generatoren sind nicht immer in der Lage, den fehlenden Strom zu liefern, denn sie benötigen viel Diesel, den es oft nicht gibt. Die einzige geregelte Versorgung der Bevölkerung wird durch etwa 2000 Tunnel an der südlichen Grenze nach Ägypten organisiert, durch die derzeit täglich 100 000 Liter Benzin und 100 000 Liter Diesel fließen.

 

Gefährliche »Unterwelt«

 

Wir fahren dorthin. Spezialsicherungskräfte begleiten uns. Die Tunnel gehen bis zu 27 Meter tief unter die Erde und sind zwischen 100 und 1000 Meter lang. Auf ägyptischer Seite enden sie zumeist in Häusern an der Grenze. Durch sie wird alles transportiert, was zum Leben nötig ist: Nahrungsmittel wie z.B. tiefgefrorener Fisch, da Israel die Fischerei vor der Küste verboten hat, Medikamente, Esel oder Kühlschränke, selbst Autos werden zerlegt und durch die Tunnel gebracht, Waren bei meinem letzten Aufenthalt im Februar noch kaum Autos auf den Straßen zu sehen, herrscht jetzt ein reger Autoverkehr.

 

Israelische Flugzeuge und Raketen greifen regelmäßig gezielt Tunneleingänge bei Rafah an, durch die auch Waffen und wichtige Ersatzteile geschmuggelt werden. Die Zielfindung wird durch Kollaborateure erleichtert, die an den Tunneleingängen SIM-Karten von Handys liegen lassen, die aus der Luft leicht geortet werden können. Das Tunnelsystem ist jedoch inzwischen derart weit verzweigt und wird permanent erweitert, dass es nur mit einer kompletten Eroberung oder einer Flächenbombardierung mit außerordentlich schwerwiegenden Folgen für die hier noch wohnende Bevölkerung zerstört oder lahm gelegt werden könnte. Es ist aber auch gefährlich. Zwei Männer wurden in der Woche unseres Besuchs durch Einsturz und Stromschlag getötet. Andererseits sind die Tunnel das einzige Lebensventil, das die Blockade nicht zu einem Zusammenbruch allen Lebens hat eskalieren lassen.

 

Die völlig zerstörte Industriezone östlich von Gaza-Stadt ist weitgehend aufgeräumt, aber mangels Materials, z. B Zement, findet Wiederaufbau nur vereinzelt statt. Landwirtschaft ist der einzig produktive Zweig einer Mangelwirtschaft am unteren Rand der Überlebensfähigkeit.

 

Es ist ein Erfahrungssatz der politischen Psychologie, dass die Strangulierung des politischen Gegners, wenn er nicht zu dessen Tod oder Aufgabe führt, nur die Eskalation der Gewalt und die Blockade einer Lösung bewirkt. Nicht nur breite Schichten der palästinensischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass genau diese Konsequenz mit der gegenwärtigen Boykottpolitik verfolgt wird.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/157720.tunnel-als-lebensader.html

Veranstaltungen:

Mittwoch, 28.10.2009, 18.15 Uhr, Arnimallee 22 (zwischen Fabeckstr. und Takustr.) Kleiner Hörsaal

Erster Vortrag der diesjähringen FU-Ringvorlesung " Frieden - Umwelt - Demokratie " (Organisation Prof. Reich):

"Israels Überfall auf Gaza, Vorgeschichte, Verlauf und Folgen vom Standpunkt des Völker- und Menschenrechts"

 

Dienstag, 17. 11. 2009 Oekumenisches Zentrum Haus der Kirche Goethestr. 27-30  10625 Berlin

Der Israel-Palästina-Konflikt / Völkerrecht und Auswege