Offener Brief an die Mitglieder des Budgetausschusses im Nationalrat

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Zur Debatte und Entscheidung liegt Ihnen ein von den Abgeordneten Reinhold Lopatka (ÖVP), Martin Engelberg (ÖVP) Pamela Rendi-Wagner (SPÖ), Petra Steger (FPÖ), Eva Blimlinger (GRÜNE) und Helmut Brandstätter (NEOS) am 11. Dezember 2019 eingebrachter „Selbständiger Entschließungsantrag“ betreffend die „Verurteilung von Antisemitismus und der BDS-Bewegung“ vor.

Wir erachten den vorgelegten Text in mehrfacher Hinsicht als höchst problematisch.

1. Unbestritten bleibt dabei, dass uns ÖsterreicherInnen als Nachkommen im geographischen Raum des Holocaust, aus dieser Barbarei, dem zweifellos dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, eine besondere Verantwortung für das Wohlergehen jüdischer Menschen erwächst. Wir sind allerdings auch zutiefst davon überzeugt, dass wir, langfristig gesehen, unseren jüdischen MitbürgerInnen nichts Gutes tun, wenn wir ihren Opferstatus immer wieder völlig von anderen rassistisch verfolgten Opfergruppen abkoppeln. Besonders auffällig ist dabei etwa die weitgehend fehlende öffentliche Aufmerksamkeit für die ethnische Gruppe der Roma und Sinti. Mangels einer starken politischen Lobby ist weder ihr Schicksal während der Herrschaft des Nationalsozialismus noch ihre aktuelle beklagenswert soziale Lage und Ausgrenzung in Europa in hinreichender Weise Gegenstand wissenschaftlicher Anstrengungen, medialer Berichterstattungen und entschlossener politischer Programme. Zudem erachten wir es als dringend nötig, das Schicksal der PalästinenserInnen in unsere Verantwortung für die Geschichte einzubeziehen. Denn auch sie sind zu Opfern der europäischen Kolonialismus- und Faschismusgeschichte geworden, deren Folgen bis heute andauern. Antisemitismus ist eine Sonderform des Rassismus. Rassismus negiert die Anderen in ihrer Identität und gefährdet sie in ihrer Existenz. Im Rahmen dieses allgemeineren Kontextes ist natürlich auch der Kampf gegen ein Neuaufleben von Judenhass unerlässlich, auch unter Anwendung des Strafrechts.

2. Der Antrag beruft sich auf die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Re­membrance Alliance (IHRA). Er ignoriert aber dessen begrifflich-wissenschaftliche Schwächen und Ungeeignetheit für die praktisch-politische Auseinandersetzung, wie dies etwa jüngst der renommierte Berliner Antisemitismus-Forscher Peter Ullrich in seinem „Gutachten zur >Arbeitsdefinition Antisemitismus< der International Holocaust Remembrance Alliance“ dargelegt hat. Ein Problem dieser Arbeitsdefinition von Antisemitismus liegt darin, dass sie aufgrund ihrer zahlreichen „Kann-Bestimmungen“ „ein Einfallstor bietet für eine damit mögliche öffentliche Stigmatisierung missliebiger Positionen im israelisch-palästinensischen Konflikt“ (Peter Ullrich).

3. Ist der im vorliegenden Entschließungsantrag zentrale Begriff des Antisemitismus auf Basis der Vorgabe des IHRC für eine ernsthafte, wissenschaftlich unterfütterte politische Debatte völlig unzureichend definiert, so fehlt bei dem von den Antragstellern ebenfalls bemühten Begriff des „Antizionismus“ überhaupt jede Definition.[1] Der Antrag setzt eine Antisemitismus-Definition, die mehr verwirrt als klärt, mit dem definitionsbedürftigen, aber im Antrag undefinierten Begriff des Antizionismus in Beziehung. So entsteht der Eindruck, man betreibe hier aus durchsichtiger ideologischer Voreingenommenheit, eine Politik der Tabuisierung der vielfältigen, offenkundigen, völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch den Staat Israel[2] - und nur um diese Kritik kann, darf und muss es bei dem, was im Westen gemeinhin unter „Israelkritik“ verstanden wird, berechtigterweise gehen.

4. Mangels der im Antrag fehlenden Definition des Zionismus-Begriffs, darf und muss man, realpolitisch gedacht, davon ausgehen, dass sich die Antragssteller auf jene Staatsideologie Israels beziehen, die heute an der Macht ist, jener von Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu und seinen ultranationalistischen Regierungskoalitionen. Und genau dieses Verständnis und die daraus folgende chauvinistische Realpolitik Israels versucht der Antrag gegenüber der weltweit wachsenden Kritik zu immunisieren.

Der Antrag enthält das inhaltsleer-floskelhafte Zugeständnis, dass „sachliche Kritik an einzelnen Maßnahmen der Regierung Israels zulässig“ sei. Er vermeidet damit den vielfach menschen- und völkerrechtswidrigen Charakter der Besatzungs- und Belagerungspolitik Israels klar zu benennen. Dies gilt für die kolonialistische Siedlungspolitik, die im Sinne des Artikel 49, Abs. 6 des „Genfer Abkommen über den Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten“ klar völkerrechtswidrig ist. Das gilt für die Annexion Ost-Jerusalems. Und das gilt für die von schweren Menschenrechtsverletzungen begleitete Militärbesatzung der Westbank und Abriegelung von Gaza. Der Antrag verkennt damit, dass hinter diesen „einzelnen Maßnahmen“ der harten Unterdrückung des Freiheitswillens und der Rechte des  palästinensischen Volkes durch Israel eine systematisch wirksame ethno-nationalistische Ideologie steht.

In Summe kommt diese Positionierung des Antrags damit jener komplizenhaften politischen Haltung gleich, die in Zeiten der südafrikanischen Apartheidspolitik zwar einzelne Maßnahmen kritisiert hat, es aber unterlassen hat, die dahinterstehende rassistische Ideologie der Apartheid zu verurteilen.

5. Israels jahrzehntelange Unterdrückung des palästinensischen Volkes verdichtet sich im Begriff des ethnozentrisch-cauvinistisch verstandenen Zionismus. Mit der im Antrag deutlichen, tendenziellen Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus wird der Boden bereitet für die zukünftige Diffamierung und Unterdrückung der notwendigen Kritik und offenen Debatte dieses verhängnisvollen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden ideologischen Konstrukts. Anlässlich der von der ÖVP/FPÖ im November 2018 in Wien ausgerichteten „Konferenz gegen Antisemitismus“ haben 34 jüdische Intellektuelle und KünstlerInnen in einem Offenen Brief genau diese Begriffsvermengung klar zurückgewiesen. Wir ersuchen um Lektüre dieses Dokuments, http://www.medico.de/17238/ .

Höchst besorgt, diese Begriffsvermengung stelle sogar antizionistisch gesinnte jüdische Menschen unter das Verdikt des Antisemitismus, äußerten sich jüngst auch 127 jüdische Intellektuelle in einem in der Zeitung Le Monde vom 3. Dez. 2019 veröffentlichten Aufruf an die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung.[3]

6. Zugespitzt findet sich diese Begriffsverwirrung in der Verunglimpfung der von der paläs­tinensischen Zivilgesellschaft ausgehenden internationalen BDS-Bewegung als „antisemitisch“. Der Antrag bürstet dabei das Selbstverständnis der Bewegung aus zionistisch-propagandistischen Gründen mutwillig gegen den Strich. Gerade weil politisch rechtsgerichtete Kräfte immer wieder Anlässe suchen, um BDS für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen, gilt es, das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Bewegung „gegen jeden Antisemitismus“ wahrzunehmen und zu respektieren.[4] Auch die im Antrag behauptete Bestreitung des Existenzrechts Israels ist keine Position der BDS-Bewegung, da ihre Forderungen ja an den Staat Israel adressiert sind, dessen Existenz also geradezu vorausgesetzt wird.

In ihren politischen Stilmitteln sieht sich die Bewegung in der Tradition der internationalen Bewegung zur Überwindung des Apartheid-Systems in Südafrika und bekennt sich zur Gewaltfreiheit im Sinne von Mahatma Gandhi. Alle ihre Forderungen sind durch das Völkerrecht gedeckt und mit ihrer Erfüllung befristet. Auch den VertreterInnen der BDS-Strategie ist dabei selbstverständlich klar, dass eine schließliche Konfliktlösung nur über vorausgehende Verhandlungen erfolgen kann. Das gilt auch für die Frage des Rückkehrrechts der Flüchtlinge. Von der palästinensischen Seite aber zu fordern, sie soll vor Beginn von Verhandlungen auf eine völkerrechtlich legitimierte Position verzichten, weil das de facto eine „antisemitische“ Bestreitung des Existenzrechts Israels sei, ist ein Verfahren, das offensichtlich  sicherstellen soll, dass die in diesem historischen Konflikt ohnehin schwer unter die Räder gekommene, wirtschaftlich, militärisch und politisch deutlich schwächere Partei, sich am Verhandlungstisch ein weiteres Mal mit Brosamen abgespeist werden wird.

Zurecht und oft unabhängig davon, ob sie selbst die BDS-Bewegung unterstützen, weisen daher viele honorige jüdische Stimmen in Israel und weltweit den Antisemitismus-Vorwurf gegen BDS als sachlich unbegründet zurück. Lesen Sie bitte dazu u.a. den von 240 dieser namhaften Persönlichkeiten anlässlich der analogen Debatte vom 17. Mai 2019 im Deutschen Bundestag unterzeichneten „AUFRUF AN DIE DEUTSCHEN PARTEIEN, BDS NICHT MIT ANTISEMITISMUS GLEICHZUSETZEN“, https://taz.de/Bundestagsbeschluss-zu-Israel-Boykott/!5601030/ .

7. Auch andere im Entschließungsantrag bezogene Positionen geben die tatsächlich von der BDS-Bewegung vertretenen Ziele sachlich unkorrekt bzw. nur unvollständig wieder. So ruft BDS etwa keineswegs zu einem undifferenzierten Boykott von „Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Sportlerinnen und Sportlern“ auf. Ihre Absicht liegt ausdrücklich nicht im Boykott von Einzelpersonen, sondern von institutionellen Ausprägungen der Unterdrückungspolitik Israels. Einzelne Personen sind nur insoweit Ziel des Boykotts, als sie sich in diese Politik einbinden lassen. D.h., BDS lehnt die Einladungen und Auftritte der genannten Personengruppen dann ab, wenn sie in den völkerrechtswidrigen Siedlungen auftreten oder unterrichten, oder wenn sie im Kontext einer von Israel organisierten positiven Imagekampagne zur Ablenkung von seiner Siedlungs-, Besatzungs- und Annexionspolitik agieren. Sowohl die israelische Anti-BDS-Propaganda als auch die von der Regierung Netanjahu forcierte positive „Brand Israel-Kampagne“ sind sehr gut dokumentiert im Buch der beiden israelischer Filmemacher Eyal Sivan / Armelle Laborie, Legitimer Protest. Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boycott Israels, Wien 2018. Wir ersuchen Sie, dieses Buch zu lesen.

8. Hinsichtlich des Warenboykotts gibt es innerhalb der BDS-Bewegung deutliche Differen­zierungen. Der Mindestkonsens besteht jedenfalls im Boykott der Waren aus den Kolonial-Siedlungen. Eine Position, die kürzlich auch der Europäische Gerichtshof bekräftigt hat. Er hat damit in dieser Frage die völlig unhaltbare Position der israelischen Regierung dokumentiert und der österreichischen Regierung dringenden Handlungsbedarf auferlegt. Ein darüber hinausgehender Boykott von Waren aus israelischer Produktion allgemein, erscheint zumindest dann, wenn man Israel ernsthaft zu einer Änderung seiner Politik des Landraubes und zur Gleichstellung aller seiner Bürger vor dem Gesetz veranlassen will, realpolitisch sinnvoll. Gerade im Kontext des EU-Israel-Assoziationsabkommens vom 1. Juni 2000 ist dies auch gut begründbar, weil Israel sich dort im Artikel 2 zur Achtung jener Menschenrechte verpflichtet hat, die es in seiner Militärherrschaft über die PalästinenserInnen ständig verletzt.[5]

Auffallend ist hier auch das zweierlei Maß, mit dem Österreich sich in anderen Fällen an Sanktionsregimen beteiligt, etwa gegenüber Russland als Folge der Annexion der Krim, es aber sanktionslos hinnimmt, wenn Israel mit dem Golan und Ost-Jerusalem - gegen alle Einsprüche der UN! - Territorien außerhalb sines legitimen Staatsgebietes annektiert. Und mehr noch, unser Land darüberhinaus Israel soagar mit engsten Kooperationen auf fast allen  möglichen bilateralen Ebenen belohnt.[6] Der Entschließungsantrag eskaliert diese doppelbödige Politik sogar noch einmal weiter: Unser Parlament soll sich im Interesse der fortdauernden harten Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch Israel dazu hergeben, zivilgesellschaftliche organisierte Sanktionsmaßnahmen als antisemitisch zu diffamieren, öffentliche Debatten darüber zu unterbinden und so die gewaltfreie BDS-Bewegung insgesamt in ihrer Wirksamkeit zu unterdrücken.[7]

9. Die BDS-Bewegung wird von der rechtsnationalistischen Regierung Netanjahu seit drei Jahren mit einer im Westen gut orchestrierten und jährlich mit mindestens 30 Mio US-Dollar aus dem Staatsbudget gut dotierten Kampagne bekämpft.[8] Der „Antisemitismus-Vorwurf“ gegen die BDS-Kampagne hat dabei einen für Israel unschätzbaren propagandistischen Wert: Wo immer er erhoben wird, entsteht eine heftige öffentliche Debatte um die Frage, ob dieser Vorwurf zurecht besteht. Und im Windschatten dieses Streits verschwindet Israels Besatzungspolitik, die vor keiner aufgeklärten Vernunft und keinem humanistischen Ethos zu rechtfertigen ist. Der Antrag stellt sich in den Dienst dieser Propaganda.

10. Insgesamt macht der Ihnen vorliegende Antrag daher den Eindruck, dass ihm keinerlei eigenständig-unabhängige Beschäftigung der AntragstellerInnen mit der BDS-Bewegung zugrunde lag, sondern hier einfach die Anti-BDS-Propaganda der israelischen Regierung und der sie auch hierzulande unterstützenden prozionistischer Organisationen unkritisch übernommen wurde. Wir appellieren an Sie, sich nicht in diese Kampagne einspannen zu lassen.

11. Der Antrag will eine Dämonisierung und Delegitimierung Israels verhindern. Er verkennt aber das Ausmaß, in dem sich Israel durch seine harte Unterdrückung des palästinensischen Volkes in den Augen einer Mehrheit der Weltbevölkerung häufig selbst dämonisiert und delegitimiert. Man dämonisiert nichts, wenn man z.B. auf die häufige und völlige Unangemessenheit des Einsatzes militärischer Gewalt und das dadurch verursachte Verhältnis der zivilen Opferzahlen hinweist, die in extremen Fällen bei den PalästinenserInnen um das Dutzendfache[9] über jenem der jüdischen Israeli liegt. Man demonisiert nichts, wenn man die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik als kolonialistisch bezeichnet. Und man dämonisiert nichts, wenn die Folgen der Belagerung von Gaza als schweren Verstoß gegen das humanitäre Menschenrecht kritisiert. Genauso wenig wie bei einem anderen Staat, macht es bei der Beurteilung Israels Sinn, von einem Abstraktum zu reden. Form und Inhalt gehören zusammen. Es ist Israels eigene Politik, die den Staat legitimiert oder delegitimiert. Nur auf der Basis des Völkerrechts und/oder grundlegender Menschenrechte wird es zwischen Mittelmeer und Jordan ein friedliches Zusammenleben von JüdInnen und PalästinenserInnen geben. Mit einer darwinistisch-machiavellistischen Politik, die alternativlos darauf setzt, das nach dem 2. Weltkrieg errungene internationale Recht durch einen Rückfall in das Recht des Stärkeren zu ersetzen, wie es auch Israels Premier Benyamin Netanjahu unter dem Schutz der gleichgesinnten US-Administration Trump propagiert[10], wird es letztlich scheitern. Es macht fassungslos, sich vorzustellen, unser Parlament könnte Netanjahu und Trump auf diesem für Israel längerfristig selbstzerstörerischen Weg per Annahme des Entschließungsantrages Handlangerdienste leisten.

12. Wir wollen eine Politik der Reduktion von Gewalt und der friedlichen Lösung von Konflikten. Gerade in unserer geopolitischen Nachbarschaft des westasiatisch-nordafrikanischen Raumes ist das auch eine Frage unserer langfristigen eigenen Sicherheit. Die Schlüssel zur Lösung des mehr als 100 Jahre alten Konflikts zwischen Juden und Arabern um das historische Palästina liegen in der Menschenrechtscharta, die jeden ethnozentrischen Überlegenheitsdünkel zurückweist und gleiche Rechte für alle vorsieht, sowie im Völkerrecht. Im Völkerrecht des 21. Jahrhunderts darf es keinen Platz für Kolonialismus geben. Wir ersuchen Sie, in diesem Sinn auf das Parlament und die Regierung in Israel einzuwirken.

13. Mit der BDS-Bewegung hat ein wesentlicher Teil der palästinensischen Gesellschaft deutlich gemacht, dass er eine Lösung unter Verzicht auf Gewalt will. Sich in dieser Situation bewusst oder unbewusst in den Dienst der israelischen Propaganda zu stellen und die palästinensische Position bei kommenden Verhandlungen dadurch zu schwächen, dass man ihr im Interesse ethno-nationalistischer Herrschaftsansprüche das gewaltfreie Instrument BDS aus der Hand schlägt, halten wir für einen schweren realpolitischen Fehler. Wer ihn begeht, sollte ehrlichweise auch sagen, dass er/sie bereit ist, die zigtausendfache alltägliche Demütigung der PalästinenserInnen durch die israelische Besatzung weiter hinzunehmen und dann auch bereit zu sein, das Weiterdrehen der Spirale von Gewalt und Gegengewalt und die dadurch auf beiden Seiten entstehenden Opfer mit zu verantworten.

14. Gewiss, nicht jede Kritik an der Politik Israels ist in motivatorischer Hinsicht frei von An­tisemitismus. Aber antisemitische Stereotype fallen auch nicht einfach vom Himmel. Sozial generierte Überforderungen und existenzielle Verunsicherungen vieler Menschen, das faschistoide Bedürfnis nach identitärer Reinheit und Volksgemeinschaft, der sozialpsychologisch vermittelte Zwang, die eigenen Ängste und Probleme auf eine Sündenbock-Gruppe projizieren zu können und andere Mechanismen spielen hier zweifellos eine große Rolle. Einem guten Teil dieser gefährlichen Phänomene könnte durch einen Politikwechsel, weg von der Politik der neoliberalen Globalisierung, wirksam begegnet werden. Diese notwendige Umsteuerung liegt wesentlich in der Verantwortung auch des österreichischen Parlaments. Während diese, auf die Tiefenstruktur der Gesellschaft zielende, notwendige Neuorientierung der Politik aber unterbleibt, geben maßgebliche politische Kräfte der Versuchung nach, Problemlösungen verstärkt in oberflächlichen Symptombehandlungen zu suchen. Der vorliegende Antrag ist ein Instrument dieser kurzsichtigen Politik.

15. Auffallend beim vorliegenden Entschließungsantrag ist auch, dass er überhaupt nicht in Erwägung zieht, es könnte zwischen dem Siedlerkolonialismus und der Besatzungspolitik Israels einerseits und dem Wiedererwachen antisemitischer Tendenzen allgemein und speziell dem sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ andererseits, einen - freilich oft vertrackten - kausalen Zusammenhang geben und es könnte das eine durch das andere befördert werden.[11] Anstatt (auch) darauf zu fokussieren, wird der Zusammenhang einfach umgedreht. Nach dem Kopf-in-den-Sand-Modell, demnach „nicht sein kann, was nicht sein darf“, basiert der Antrag auf dem Dogma, antisemitische Erscheinungen hier können mit dieser Politik dort gar nichts zu tun haben. Diese fast völlige analytische Abtrennung des Phänomens des Antisemitismus von der systematisch menschenrechts- und völkerrechtswidrigen Palästina-Politik Israels entwertet den Antrag in seiner realpolitischen Wirksamkeit. In der Verweigerung zuzugeben, dass Israels ethno-nationalistische Politik im Gemüt wenig reflektierter Menschen ursächlich an der Entstehung und Verbreitung antisemitischer Stereotype beteiligt sein könnte und leider oft auch ist, wird das vorgegebene Ziel konterkariert. Der Kampf gegen Antisemitismus wird damit zur Tünche über den mangelnden Willen, ihn auch zu gewinnen.

16. In den konkreten Maßnahmen zielt der Antrag darauf, Initiativen, Organisationen und Vereinen, die die Palästina-Politik Israels mit kritischer Öffentlichkeitsarbeit begleiten, die Förderwürdigkeit abzusprechen und ihnen die Benützung öffentlicher Räume zu untersagen. Wir verweisen Sie darauf, dass Sie damit die Grenze der Verpflichtung zur Wahrung der Meinungsfreiheit überschreiten. Als VolksvertreterInnen sind Sie auf unsere „schöne Bundesverfassung“ (copyright Bundespräsident Alexander Van der Bellen), d.h. auch auf den Art. 13 StGG und auf den in die Bundesverfassung übernommenen Art. 10 EMRK vereidigt. Es obliegt Ihnen daher ausdrücklich nicht, die Meinungsfreiheit der von Ihnen Vertretenen einzuschränken, sondern sie zu wahren. In Deutschland gibt es erste Gerichtsurteile, die Verbote von Benützungen öffentlicher Räume, die auf Basis von Beschlüssen, wie jenem, der Ihnen vorliegt, als grundrechtswidrig erklärt haben.[12] Wir hoffen sehr, dass sich unsere legislativen und exekutiven Organe durch eine kluge, vorausschauende Politik derlei Zurechtweisungen durch unsere Judikative ersparen.

17. Vor 25 Jahren veröffentlichte Samuel Huntington seine These vom „Zusammenstoß der Kulturen“. Vieles von dem, was sich seither geopolitisch ereignet hat, scheint ihm Recht zu geben. Die unter Führung der USA von den Staatskanzleien und Parlamenten des Westens betriebene Politik der harten Konfrontation mit der arabisch-islamischen Welt hat daran wesentlichen Anteil.

Die Palästina-Frage ist dabei ein neuralgischer Punkt. Die bedingungslose Unterstützung des Westens für Israels Besatzungspolitik wird in breiten Schichten der Bevölkerung des arabischen und darüber hinaus des islamischen Raumes als fortwährende Demütigung empfunden. Solange die europäischen Politiken es dabei belassen, in mutlos-litaneihaft vorgetragenen Erklärungen an der Zweistaatenlösung festzuhalten, sie aber de facto in einer komplizenhaften Realpolitik hinnehmen, wie die Politik Israels demgegenüber einen eigenen lebensfähigen palästinensischen Staat durch konsequent und permanent gesetzten Fakten seiner Annexions-, Besatzungs- und Siedlungspolitik verunmöglicht, tragen wir in vorsätzlicher oder fahrlässiger, jedenfalls aber von uns zu verantwortenden Weise zur Verschärfung dieses Kampfes bei.

Zusammenfassend: Der Ihnen vorliegende Antrag ist geprägt durch einen Mangel an historischer Weisheit und friedenspolitischer Vernunft. Im gegebenen Kontext ist er geeignet, Huntingtons These eine weitere, scheinbar sachzwanghafte Bestätigung zu liefern und Antisemitismus zu fördern. In aller Regel reagieren nämlich Menschen auf unangemessene Tabuisierungen mit einem inneren Groll, der geeignet ist, vernünftige Differenzierungen zu überlagern oder völlig zu verdrängen. Wir wünschen Ihnen die Weisheit, dieser unreflektierten Wutbürgerei mit der ihr innewohnenden Tendenz zu tatsächlich antisemitischen Haltungen keinen Vorschub zu leisten und in Wahrung des Menschenrechts auf Meinungsfreiheit den öffentlichen Raum für diese notwendigen Debatten zur Lösung der Palästina-Frage offen zu halten.

Aus all den genannten Gründen ersuchen wir Sie dringend, dem Antrag die Zustimmung zu versagen.

 

Für die Plattform Palästina Solidarität Österreich,

 

Franz Sölkner, Thal bei Graz                                                Dr. Angela Waldegg, Wien

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Kontaktdaten:

Franz Sölkner

Am Lindenhof 7

8051 Thal

Tel.: 0677 61 39 29 90

Email: palestine.solidarity.austria@gmail.com

PS.: Im Falle Ihrer mehrheitlichen Zustimmung zum gegenständlichen Entschließungsantrag ersuchen wir um eine ausführliche inhaltliche Beantwortung unserer Punktation.

 

[1]          Grob betrachtet sind drei Richtungen des Zionismus zu unterscheiden: Bedeutsam wurden der vom Staatsgründer David Ben Gurion repräsentierte Linkszionismus, der die Zeit vor und nach der Staatsgründung dominierte und der ultranationalistische Rechtszionismus in der Tradition der sogenannten „Revisionisten“ rund um Vladimir „Zeev“ Jabotinsky. Diese Richtung wurde vor und nach der Staatsgründung 1948 von einer bedeutsamen Minderheit vertreten und kam mit Menachem Begin und seiner Likud-Partei bei den Knesseth-Wahlen 1977 erstmals an die Macht. Und schließlich gab es eine nicht oder kaum ethno-nationalistisch ausgeprägte Richtung des Zionismus. Sie wurde u.a. von der Gruppe Brit Schalom rund um den Philosophen Martin Buber oder von der linken Jugendbewegung Hashomer Hatzair vertreten. Dieser humane Zionismus wurde realpolitisch bald völlig an den Rand gedrängt und spielte im späteren Verlauf der Geschichte keine Rolle.

[2]          Auch wenn die Berichterstattungen der österreichischen und europäischen Leitmedien durch eine überwiegend proisraelische Tendenz gekennzeichnet sind, so kann man sich heute über das historische und aktuelle Ausmaß dieser Unterdrückung durch alternative soziale Medien jederzeit ein tatsachengetreues Bild machen: Vertreibung, Enteignung von Land und Wasserressourcen für kolonialistische Siedlungen, Zerstörung von Olivenhainen palästinensischer Bauern, immer wieder verlängerbare Administrationshaft, Kinder- und Jugendliche in Gefängnissen, gezielte außergerichtliche Morde, alltägliche demütigende Schikanen an hunderten Checkpoints, Hauszerstörungen, usw. Die Ausrede, wir hätten irgendetwas davon nicht wissen können, ist heute nicht mehr möglich.

[3]          Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in https://www.sozonline.de/2019/12/antizionismus-nicht-gleich-antisemitismus/?print=true .

[4]          Siehe http://bds-kampagne.de/2019/08/15/bds-verurteilt-antisemitische-faschistische-kraefte-in-deutschland-und-weltweit/

[5]          Die Menschenrechte werden im Art. 2 als ein „wesentliches Element dieses Abkommens“ bezeichnet. Der Art. 79 enthält auch die Möglichkeit, im Falle einer Vertragsverletzung Sanktionen zu verhängen.

[6]          Sehen Sie dazu u.a. die zahlreichen rüstungs- und militärwirtschaftlichen Kooperationen Österreichs mit Israel im Rahmen der EU-Forschungsprogramme (Horizont 2020, Horizont Europa). Angesichts des Umstandes, dass Israel sich mit einigen seiner Nachbarländer nach wie vor im Kriegszustand befindet, es völkerrechtswidrig fremde Territorien annektiert hat und seine Armee das Land seines Nachbarvolkes besetzt und belagert hält, erscheinen dabei die Kooperationsvereinbarungen des neutralen Österreich – auch seines Bundesheeres - mit der Armee und der Rüstungsindustrie Israels besonders inakzeptabel.

[7]          Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die zionistische Bewegung selbst in ihrem Kampf um einen eigenen Staat schon in ihrer Frühzeit Boykottmaßnahmen gegen die arabische Bevölkerung Palästinas propagierte und organisierte. Dies geschah etwa unter den Begriffen „Jüdische Ware“ („Tozeret Ivrit“) und „Jüdische Arbeit“ („Avoda Ivrit“). Siehe dazu Walter Hollstein, Kein Friede um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts, Berlin 1984, S 52ff. Diese Maßnahmen wurden nach der Staatsgründung 1948 in vielfältiger Weise in die Staatspolitik übernommen.

[8]          Siehe das oben in Pkt. 6 genannte Buch „Legitimer Protest“, Seite 29. Zusätzlich werden große Beträge von jüdischen und evangelikal-christlichen, proisraelischen Lobbygruppen aufgebracht, so etwa im Juni 2015 ca. 50 Mio. US-$ allein zur Bekämpfung von BDS an US-amerikanischen Hochschulen, siehe „Legtimer Protest“, Seite 68ff.

[9]          Und in Einzelfällen wie etwa beim Gaza-Krieg 2008/2009 gar um den Faktor 100!

[10]        Es sei eine „einfache Wahrheit“ der Geschichte, dass es „in ihr keinen Platz für die Schwachen gibt. Die Schwachen werden zerbröckeln, werden niedergemacht und aus der Geschichte gelöscht, während die Starken überleben und respektiert werden.“, zitiert nach dem engl. Originalzitat in Rainer Mausfeld, Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2019, Seite 218, FN 8.

[11]        Dies gilt natürlich auch im Falle seines Auftretens bei bestimmten Gruppen von MigrantInnen, die von einer (noch) starken emotionalen Bindung an ihre arabische oder islamische Herkunft geprägt sind.

[12]        Sehen sie etwa https://www.sueddeutsche.de/muenchen/stadt-unterliegt-in-rechtsstreit-umstrittene-filmvorfuehrung-1.4369928