Wer Lehren ziehen will

Die Afrikawissenschafterin Birgit Englert schrieb über die zunehmende Verdrängung jeglicher Diskussionskultur zu Palästina und die Parallelen zur Anti-Apartheid-Bewegung. Der Text ist am Samstag, dem 16.5.2020 in der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.

Ist jede Kritik am Staat Israel antisemitisch? Zur Notwendigkeit einer neuen Diskussionskultur über Palästina: Replik auf Monika Schwarz-Friesels Gedenkrede.

"Unter dem Titel „Wer so denkt, mordet wieder“ ist am 2. Mai im „Spectrum“ ein Text von Monika Schwarz-Friesel erschienen. Die Autorin vermischt darin Debatten um Antisemitismus, Antizionismus und die BDS-Bewegung (Boykott, Deinvestitionen, Sanktionen) und zeichnet von Letztgenannter ein irreführendes Bild. Mit Sätzen wie „Es reicht nicht, die Neonazis, Islamisten und BDS-Aktivisten auf der Straße zu kritisieren“, suggeriert sie eine inhaltliche Nähe zwischen den Positionen dieser Gruppen, die im Fall der BDS-Aktivisten jeder Grundlage entbehrt. Schwarz-Friesel fordert, „die surreale Hass- und Feindbildrhetorik von Linken im israelbezogenen Judenhass“ zu kritisieren und aufzuklären, „was hinter Kampagnen wie BDS steht“. In ihrem Text unterlässt sie Letzteres jedoch und unterstellt den Aktivisten stattdessen pauschal Hass auf Juden als Motiv ihres politischen Handelns.

Wäre sie an einer glaubwürdigen Auseinandersetzung mit den Akteuren, Positionen und Methoden der BDS-Bewegung interessiert, müsste sie zunächst feststellen, dass diese 2005 als Zusammenschluss von 171 Gruppen der palästinensischen Zivilgesellschaft gegründet wurde. Die drei Ziele der Bewegung sind mit internationalem Völkerrecht konform und beruhen auf den allgemeinen Menschenrechten. Die Forderungen werden jedoch kaum je ernsthaft diskutiert, weil das Feindbild von BDS als vermeintlich judenhassender Bewegung erfolgreich geschürt wird. Vor allem im deutschsprachigen Raum blieb eine Auseinandersetzung mit der Situation, die zur Gründung von BDS geführt hat, weitgehend aus.

Das verdeutlicht derzeit die im deutschen Feuilleton und mittlerweile auch in Österreich geführte Diskussion über den in Südafrika lehrenden Historiker und postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe. Von Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, wurde er beschuldigt, den Holocaust zu verharmlosen, und auch eine Nähe zu BDS wurde ihm vorgeworfen. Seine Schriften bestätigen die Vorwürfe keinesfalls. Zu diesem Schluss kamen nicht zuletzt 37 jüdische Intellektuelle in einem Protestschreiben an die deutsche
Bundesregierung. Sie forderten darin die Abberufung Kleins. Dieser setze Antisemitismus als „Waffe“ gegen Kritiker der israelischen Regierung ein; dadurch schwäche er den Kampf gegen Antisemitismus, so ihre Begründung. In Bezug auf BDS stellen die Unterzeichnenden fest, dass sie unterschiedlicher Meinung seien, BDS jedoch keinesfalls für antisemitisch hielten und deren Forderungen jedenfalls vom Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt seien. Die Tabuisierung und Ausgrenzung von BDS trage zudem zur Marginalisierung von Minderheiten in Deutschland bei.

Die Forderungen von BDS, eben „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“, beziehen sich direkt auf die der Anti-Apartheid-Bewegung (AAB). Diese war ab 1977 auch in Österreich aktiv, und ihre Geschichte ist für die Auseinandersetzung mit BDS wesentlich.

Südafrikas Apartheid-Praktiken
Es war in den 1970er- und 1980er-Jahren keine leichte Aufgabe, im deutschsprachigen Raum auf die südafrikanischen Apartheidpraktiken aufmerksam zu machen – zumal Wirtschaftsunternehmen kein Interesse daran hatten, ihre Geschäftsbeziehungen mit dem Apartheidstaat zu beenden. Zentrales Element der Bewusstseinsbildung der AAB war dabei der
Boykottaufruf gegenüber dem Kauf von Waren aus Südafrika. Die AAB sensibilisierte die Bevölkerung in europäischen Ländern für die Lebensrealität der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit in Südafrika. Im Zuge der Kolonisierung vom weitaus größten Teil ihres Landes vertrieben, lebte sie überwiegend in sogenannten Homelands mit begrenzter Selbstverwaltung und weitgehend rechtlos im Apartheidstaat.

Auch die Palästinenser, deren Strategie des gewaltfreien Widerstands sich am südafrikanischen Beispiel orientiert, blicken auf eine lange Geschichte der gewaltsamen Aneignung ihres Landes zurück. In ihrer Perspektive ist die Staatsgründung Israels 1948 der Tag, an dem der „Nakba“ (Katastrophe) gedacht wird. Mindestens 750.000 Menschen mussten ihre Heimat im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina verlassen. Es kam zu gewaltsamen Vertreibungen und zur Zerstörung Hunderter Dörfer. Dass auch die „Nakba“ eine Folge des Holocaust ist, wird in der Diskussion häufig ausgeblendet.

Im Zuge des Sechstagekriegs besetzte Israel 1967 die Westbank einschließlich Ostjerusalem, den Gazastreifen und die Golanhöhen. In der von Checkpoints durchteilten Westbank wird unter israelischer Besatzung seit 53 Jahren der Siedlungsbau vorangetrieben und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung massiv eingeschränkt. Gaza ist seit 2007 einer vollständigen Blockade durch Israel und Ägypten ausgesetzt. Kernstück der neuen Koalitionsregierung Netanyahu-Gantz ist die Annexion von Teilen der Westbank durch Israel. Die Blaupause dafür hat Donald Trumps
Schwiegersohn Anfang 2020 mit dem vorgeblichen „Deal of the Century“ vorgelegt. Die Vorgangsweise verdeutlicht, wie koloniale Landnahmen oft funktionieren: mittels „Übereinkommen“ und ohne Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung. In diesem Fall wurde den Palästinensern das Verhandlungsergebnis zwischen Israel und den USA via Pressekonferenz mitgeteilt.

Dazu gab es zwar von einigen europäischen Staaten kritische Reaktionen, nicht jedoch von Österreich. Auch die vorsichtige Kritik von Deutschland blieb zahnlos. „Palästina muss sterben, damit die deutsche Staatsräson leben kann“, postete die Initiative „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ am 28. Jänner. Sie bringt auf den Punkt, was sich auch für Österreich konstatieren lässt: Im Versuch, die eigene Schuld am Holocaust zu bewältigen, wird eine bedingungslose Solidarität mit Israel postuliert, in der die Rechte der palästinensischen Bevölkerung keinen
Platz haben. Es wird ignoriert, dass die BDS-Bewegung ausdrücklich mittels gewaltfreier Mittel darauf aufmerksam macht, dass seit Jahrzehnten Völkerrecht gebrochen wird. Ihre Proteste und Boykottaufrufe werden geächtet.

Ein Boykottaufruf ist freilich legitimes Mittel zur Durchsetzung von Rechten. Neben der AAB ist die Bürgerrechtsbewegung in den USA ein prominentes Beispiel. Die AAB wurde im Übrigen in ihren Anfängen ebenfalls als antisemitisch gebrandmarkt: Wie heute gegenüber BDS wurde damals argumentiert, auch die Nazis hätten mit der Forderung „Kauft nicht bei Juden“ zum Boykott aufgerufen. Doch die Nazis verordneten den Boykott aus einer Machtposition, um eine Minderheit zu diskriminieren. In den anderen genannten Fällen war und ist Boykott eine Strategie, sich
gegen Unterdrückung zur Wehr zu setzen.

Die Boykottaufrufe von BDS richten sich gegen staatliche Einrichtungen, Firmen oder Individuen, die von der Politik der israelischen Regierung profitieren. Sie richten sich keinesfalls gegen Juden, weil sie Juden sind. So sind auch zahlreiche jüdische Israelis sowie in anderen Ländern lebende Juden bei BDS oder kooperierenden Gruppen wie „Jewish Voice for Peace“ aktiv. BDS im öffentlichen Raum zu diskreditieren ist daher auch ein Versuch, bestimmen zu wollen, welche jüdischen Stimmen heute in Deutschland und Österreich Gehör finden dürfen und welche nicht. Die
Problematik, die mit diesem Anspruch auf Definitionsmacht einhergeht, sollte denjenigen, die Antisemitismus bekämpfen wollen, eigentlich auffallen.

Anstelle der nötigen differenzierten Auseinandersetzung mit den Positionen von BDS und Palästina-solidarischen Gruppen wurde deren pauschale Ächtung institutionalisiert. Wichtigstes Instrument dafür ist der Anti-BDS-Beschluss, der in Österreich im Februar 2020 vom Nationalrat verabschiedet wurde. Ähnliche Erklärungen wurden davor bereits auf Gemeindeebene in Wien, Graz und Innsbruck angenommen.

Österreichs Anti-BDS-Beschlüsse
Kernpunkt dieser Beschlüsse ist neben der Verurteilung von BDS als antisemitisch das Untersagen der Förderung mit öffentlichen Mitteln und das Vermieten öffentlicher Räume an die Bewegung. Zynisch wird es, wenn der Text als Ziel hervorhebt, die „Rolle Österreichs als hervorragende Stätte des internationalen Dialogs und Austausches weiter zu pflegen“ – ein absurdes Lippenbekenntnis.

Bereits vor den Anti-BDS-Beschlüssen mussten in Österreich zahlreiche Veranstaltungen von in der Palästina-Solidarität engagierten Vereinen oder mit solchen Persönlichkeiten abgesagt werden. Darunter die mittlerweile verstorbene Holocaust-Überlebende Hedy Epstein, die 2016 von einer Veranstaltung im Parlament über Krieg und Faschismus wieder ausgeladen wurde. Ähnlich erging es 2019 Ronnie Kasrils, einem führenden Anti-Apartheid-Kämpfer, der auf Einladung von BDS Austria im Volkskundemuseum sprechen sollte. Mit Verweis auf den
Gemeinderatsbeschluss gegen BDS wurde der Mietvertrag für den Veranstaltungssaal jedoch aufgekündigt, der Südafrikaner jüdischer Herkunft musste in einem Restaurant im zehnten Bezirk auftreten.

Statt reflexartig „Antisemitismus“ zu rufen und damit der Auseinandersetzung mit einer komplexen Geschichte aus dem Weg zu gehen, braucht es dringend eine breite Debatte über die Anliegen von BDS und anderer mit Palästina solidarischer Gruppen. Das steht keineswegs im Widerspruch zur Verantwortung, die sich aus Österreichs Mitschuld am Holocaust ergibt, sondern ist vielmehr eine Folge daraus. Denn wer die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen will, kann dessen Auswirkungen auf die Geschichte der Palästinenser nicht ignorieren.