Ausgezeichneter Kommentar von John Bunzl

Sephardische Synagoge in Jerusalem Ende des 19. Jahrhunderts, also vor der zionistischen Landnahme. Damals funktionierte das Zusammenleben um vieles besser als in Europa

Bei der Debatte um den Antisemitismus wird der "Elephant in the room" nicht genannt: die koloniale Besetzung Palästinas

Vom großen britisch-amerikanischen Orientalisten Bernard Lewis (1916–2018) stammt der Satz: „Es ist unvernünftig und unfair anzunehmen, dass Ablehnung des Zionismus oder Kritik an israelischen Politiken und Handlungen schon als solche und beim Fehlen anderer Beweismittel der Ausdruck eines antisemitischen Vorurteils wären. Der arabisch-israelische Konflikt ist ein politischer – eine Auseinandersetzung zwischen Staaten und Völkern über reale Angelegenheiten, und nicht eine Sache von Vorurteil und Verfolgung.“

Die quasi-automatische Unterstellung eines Antisemitismus von Flüchtlingen erfüllt mehrere Funktionen. Sie suggeriert, dass das eigene unselige Erbe nun von Arabern und Muslimen bewältigt werden soll. Dazu dient die Vermittlung des Holocaust an Flüchtlinge. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, denn das Thema geht selbstverständlich alle Menschen an. Gleichzeitig muss jedoch daran erinnert werden, dass die Judenvernichtung während der NS-Diktatur von christlich getauften Massenmördern durchgeführt wurde.

Muslime haben nichts mit den Ursachen, viel jedoch mit den Folgen zu tun. Während der europäische Antisemitismus eine Ursache für Judenverfolgung und Holocaust darstellt, handelt es sich bei muslimischer Judenfeindschaft im Wesentlichen um eine Folge der zionistischen Usurpation Palästinas. Im Islam gibt es weder rassistische Motive noch einen obsessiven Judenhass.

Jesus im Koran

Der Grund besteht darin, dass Muslime keine Christen sind. Im Koran kommt Jesus zwar vor, seine Kreuzigung aber nicht, und die Behauptung seiner Gottgleichheit gilt als blasphemisch. Vergleiche damit die Zentralität der Kreuzigung in der Begründung eines abendländischen Antisemitismus.

Nun kommt hinzu, dass bei der hiesigen Debatte ein „Elephant in the Room“ fehlt: die koloniale Besatzung Palästinas durch Israel, das sich als „jüdisch“ bezeichnet und legitimiert. Unter Palästinensern (und anderen Arabern) wird das Wort „Jude“ synonym für Soldat und/oder Siedler gebraucht. Hätte ein anderes Volk Palästina kolonisiert, wären analoge Feindseligkeiten die Folge gewesen.

Kontextbezogene Aufklärung

Es ist zwar richtig, dass bei der Abwehr des Zionismus auf antijüdische Passagen im Koran zurückgegriffen wird. Aber es ist doch klar, dass Palästinenser nicht deshalb gegen Israel sind, weil es als jüdisch wahrgenommen wird; umgekehrt sind Israelis nicht deshalb gegen Palästinenser, weil diese Muslime sind.

Die Unterstellung eines Antisemitismus hat nicht nur die eingangs erwähnte exkulpierende Funktion, sie erlaubt auch die Eingliederung in eine abendländische Islamophobie, die weltweit das Phänomen eines Rechtspopulismus rechtfertigen soll.

Aufklärung tut not. Sie muss jedoch kontextbezogen sein. Die europäische „Vergangenheitsbewältigung“ reicht da nicht aus. Der Bezug kann vielleicht dadurch hergestellt werden, dass der christliche Antisemitismus als wesentlicher Faktor bei der jüdischen Suche nach einer sicheren Heimstatt gelten kann. Dadurch und in der Folge durch die Steigerung durch den Holocaust hat Europa nicht nur zur Herstellung des Staates Israel beigetragen, sondern damit auch die palästinensische Tragödie mitbewirkt.

Verantwortung müsste bedeuten, ein Ende dieser Verkettung zu bewirken. Die Reproduktion eines rechten, in Wahrheit völkischen israelischen Diskurses perpetuiert jedoch nur den Schrecken, den es zu bannen gilt.

em. Prof. John Bunzl (* 1945 in London) ist Politikwissenschaftler und Senior Fellow am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP).

aus: Die Presse – 05.09.2020, S. 25 [Titel geändert]