Hierarchisierung der Opfer fördert Antisemitismus

Frau Univ.Prof. Polak fokussiert auf die jüdischen Opfer des Holocaust. Raoul Hilbert, selbst Jude und einer der renommiertesten Holocaustforscher, spricht von insgesamt 11 Mio Opfern. In der westlichen Erinnerungskultur gibt es eine starke Hierarchisierung der Opfergruppen. Nichtjüdische Gruppen fallen weitgehend unter den Tisch. Häufig wird dagegen eingewandt, dass es nur bei den Juden eine derartige rassenbiologische Begründung des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gab. Aber das traf ähnlich auch für die Roma, Sinti und Jenischen zu. Und gerade weil in diesen Tagen der Juden-Progrome der Wiener Gesera von 1421  gedacht wurde, darf man nicht vergessen, dass auch die sozial ausgegrenzten "Zigeuner" im Spätmittelalter häufig einen schrecklichen Tod auf Scheiterhaufen erlitten.

Dass die Juden in der deutsch-österreichischen Gedenkkultur einen besonderen Platz einnehmen müssen, ist klar. Sie waren nicht nur die mit Abstand größte Opfergruppe, sondern es war auch bei keiner der anderen rassisch verfolgten Opfergruppen der Vernichtungswille der Nazis so totalitär wie bei Ihnen.  Allerdings tut man mit der fast ausschließlichen Betonung ihres Opferseins  den Juden längerfristig selbst nichts Gutes und man wird so dem Antisemitismus nicht beikommen. Bei vielen Menschen entsteht hier ein Gefühl der Meinungssteuerung und einseitigen Instrumentalisierung des jüdischen Opferseins, also ein kausaler Hintergrund genau dessen, was auch Frau Polak fassungslos macht - die Wiederkunft des Antisemitismus.

Natürlich gibt es auch einen "israelbezogenen Antisemitismus", und zwar dann, wenn ein/e AntisemitIn die Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen als Vorwand nutzt, um seine/ihre antisemitischen Ressentiments zu begründen. Aber Frau Polak zieht dabei nicht in Erwägung, dass es auch - ohne ein antijüdisches Ressentiment zu haben -  handfeste Grüne für eine massive Kritik an den ethnozentrischen, kolonialistischen und apartheidsförmigen Zügen von Israel zionistischer Staatsideologie und Realpolitik gibt. Nicht zufällig bezeichneten honorige Menschenrechtsorganisationen wie B'tselem und Human Rights Watch Israels politisches System jüngst als eine Struktur der Apartheid.  Ein großer Teil der intellektuellen und politischen Eliten des Westens glaubt, hier  nicht differenzieren zu müssen, sondern den KritikerInnen der vielfach menschen- und völkerrechtswidrige Unterdrückung des palästinesischen Freiheitswillens durch Israel,  mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnen zu können.  Dadurch wird der Kampf gegen den Judenhass aber nicht nur nicht zu gewinnen sein, sondern derlei Haltungen  des Ungeistes werden weiter zunehmen.

Frau Polak sieht zunächst den "israelbezogenen Antisemitismus von Zuwanderern aus dem Nahen Osten" und erst "daneben" eine große Gefahr im "rechtsextremen Antisemitismus".  Die letzten Zahlen sagen anderes: Laut Aussage von IKG-Präsident Oskar Deutsch in der Kl. Ztg. vom 27. April standen in einem jüngsten Zeitraum  229 Vorfälle mit rechtem Hintergrund, 74 in einem muslimischen  Zusammenhang gegenüber. Gemeinhin wird Juden aus weltanschaulichen und historischen Gründen die Berechtigung zuerkannt, eine grundsätzlich positive Beziehung zum jüdischen Staat Israel zu haben. Häufig verstellt ihnen das aber den kritischen Blick auf die dunklen Seiten der Geschichte und Gegenwart Israels. Christliche ZionistInnen wie Frau Polak leiden unter den selben Erkenntnisbeschränkungen. In ähnlicher Weise haben muslimische und christliche AraberInnen  oft eine emotionale Nähe zum seit Jahrzehnten schwer unterdrückten Volk der Palästinenserinnen und sie tun sich daher häufig schwer, zwischen Juden/Judentum und dem jüdischen Staat zu differenzieren. Das entschuldigt natürlich keinerlei Hassgefühle, macht aber deutlich, dass in Europa lebende unkritische  "FreundInnen Israels"  einerseits und Zuwanderer aus dem Nahen Osten mit Aversionen gegen Juden andererseits, vor je eigenen Hausaufgaben stehen.