Nachlese zum KZ-Gedenken

Am 5. und 8. Mai waren wieder die Gedenkveranstaltungen zur Befreiung der Konzentrationslager in Mauthausen und Gusen. Ich finde es gut, dass es dieses Gedenken gibt. Ich arbeite schon seit Jahrzehnten mit bei Amnesty International und bei der kirchlichen Friedensbewegung Pax Christi. Der Holocaust ist für mich das größte Verbrechen, das es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Unsere Generation kann nicht dafür für die Verbrechen von damals, aber das Gedenken und das Erinnern kann uns helfen, wachsam zu sein, dass sich nicht ähnliches in der Geschichte wiederholt. Christa Wolf sagte einmal, dass wir unseren Blick nicht nur auf den Krieg richten sollen, sondern ganz besonders auch auf den Vorkrieg. Es ist daher wichtig, alle Anzeichen von Antisemitismus zu erkennen und bekämpfen. Es ist wichtig wachsam zu sein. Ich möchte jetzt nicht Kritik üben an dem, was die Politikerinnen und Politiker bei den Gedenkveranstaltungen gesagt haben. Ich möchte Kritik über an dem, was sie nicht gesagt haben. Sie haben den Antisemitismus gegeißelt – das ist in Ordnung. Sie haben aber nicht gesagt, dass es heute einen „Antisemitismus“ gibt, der andere Namen hat wie Fremdenfeindlichkeit und AusländerInnenhass und dass von dieser Form des „Antisemitismus“ auch viele Politikerinnen und Politiker infiziert sind. Die GedenkrednerInnen haben in keiner Weise gesagt, dass es heute auch noch in viele n Ländern Konzentrationslager gibt, wo Menschen grausam gefoltert und umgebracht werden und dass es Millionen Menschen auf der Welt gibt, die Zwangsarbeit leisten müssten. Eine Diktatur kann ohne Folter und Hinrichtungen gar nicht existieren.

 

Wann immer beteuert wird „Nie wieder“ – warum sagt man nicht, dass das „Wieder“ traurige Realität ist. Es ist relativ leicht, die Verbrechen der Vergangenheit zu benennen. Ich gestehe der Isarelitischen Kultusgemeinde zu, dass sie sehr sensibel und wachsam ist, wann irgendwo Antisemitismus aufkeimt Ich denke aber, dass das jüdische Volk, das so viel Leid erlitten hat, auch dafür besonders sensibel sein soll, dass der Staat Israel nicht auch einem anderen Volk Leid zufügt. Wenn wir nüchtern die Situation des palästinensischen Volkes sehen, dann können wir nicht sagen, dass ihnen vom Staat Israel kein Leid zugefügt wird und ihnen kein Unrecht angetan wird.

 

Auf ein drittes möchte ich noch hinweisen, auf das die Politikerinnen und Politiker nicht hingewiesen haben und nicht hinweisen. Der Sozialwissenschaftler Jean Ziegler, dass alle fünf Sekunden auf der Welt ein Kind an Hunger stirbt. Ziegler sagt, dass diese Kinder nicht an Hunger sterben, sondern dass sie ermordet werden. Das ist heute eine traurige Wirklichkeit. Ich behaupte, dass jedes Jahr Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern des Kapitalismus sterben. Wir haben in diesem Jahr weltweit die Toten gezählt, die durch die Pandemie gestorben sind. Wir zählen nicht die Toten, die durch die unmenschlichen und ungerechten Strukturen des neoliberalen Wirtschaftssystems sterben. Es ist ein System, wo der Mensch nicht zählt, sondern nur der Profit und wo die Schwer zwischen Reich und Arm immer wieder auseinandergetrieben wird. Kein Politiker / keine Politikerin getraut es sich auch zusagen, dass Milliarden Dollar in Rüstung und Militär hineingepumpt werden, damit mit militärischer Macht weltweit dieses Unrechtssystem aufrechterhalten werden kann. Hunger ist kein Schicksal, Hunger wird bewusst gemacht und die Politik könnte es ermöglichen, dass kein Mensch auf unserer Welt mehr hungern muss. Eine andere Welt wäre möglich.

 

Die Pandemie hat die Welt hoffentlich zu einem tieferen Nachdenken gebracht. Vielleicht wird auch den Verantwortlichen bewusst, dass wir nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart betrauern sollen.

 

Kaplan Franz Sieder ist em. Betriebsseelsorger in Amstetten und arbeitet u.a. bei Amnesty International, bei der  Arbeitsgemeinschaft Christentum und Sozialdemokratie (ACUS) und bei Pax Christi Wien mit.