Bis zum letzten Tropfen: Rückblick

In der geschichtswissenschaftlichen und politischen Diskussion der letzten Jahre wurde es zunehmend normal, Israel, seine zionistische Staatsideologie, sein soziales und politisches System und vor allem sein Herrschaftsmodell über das autochtone Volk der Palästinenser:innen unter den Stichworten Ethno-Zentrismus, Jüdischer-Nationalismus, Siedler-Kolonialismus und Apartheid zu analysieren. Dass zwischen Mittelmeer und Jordan  ein durchgängiges System der Apartheid, also der Trennung der Bevölkerung  in zwei unterschiedliche Rechtssysteme herrscht, bestätigten erst kürzlich zwei Untersuchungen, jene der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem  und der sehr umfassende Bericht der international renommierten NGO Human Rights Watch/HRW.

Das Wissen über Israels völkerrechtswidrige Siedlungspolitik und die damit verbundene  fortschreitende Enteignung palästinensischen Landes hat schon seit Längerem in das Allgemeinbewusstsein der Mehrheit auch der österreichischen Bevölkerung Eingang gefunden. Weniger bekannt ist die extrem ausgeprägte einseitige Aneignung palästinensischer Wasserressourcen durch Israel. Diese Hydro-Apartheid und die daraus erwachsenden palästinensischen Wassernöte waren das Thema mehrerer Vorträge, die der seit 24 Jahren in Ramallah lebende deutsche Hydrogeologe Clemens Messerschmid Anfang September in Wien, Graz und Innsbruck hielt.

 

Einige faktische Eckpunkte seiner Ausführungen:

  1. Unser Glaube, es handelt sich bei Israel/Palästina um eine sehr trockene Region ist ein Mythos.  Nur der Süden ist wasserarm und von einer entsprechenden natürlich-"mageren" Vegetation  geprägt. Anders im Zentrum und Norden des Landes.  Hier liegen die Jahresniederschlagsmengen sogar etwas höher als jene im Osten Österreichs, Jerusalem habe mehr Regen als Wien.  Die großen Wasserreservoire  sind die Jordansenke, vor allem aber die drei ergibigen Grundwasserkörper ("Aquifere") im Bereich des palästinensischen Berglandes.
  2. Vor allem um neue Ansiedlungen und die Entwicklung der Landwirtschaft  im Süden des Landes zu ermöglichen, hat Israel schon vor den Sechstagekrieg 1967 das Wasser des Jordan-Oberlaufs mit einer großen Wasserleitung dorthin umgeleitet. Der Unterlauf des Flusses  zwischen dem See Genesareth und dem Toten Meer ist dadurch nur mehr ein schwächliches, stark verschmutzes Gerinne.
  3. Die israelischen Eroberungen im Sechstagekrieg vom Juni 1967 (Westbank, Ost-Jerusalems, des Gaza-Streifens und Golanhöhen) wurde der ausschließlichen Herrschaft des israelischen Militärs unterstellt. Mit drei Erlässen des Militärkommandeurs sicherte sich Israel sämtliche Wassernutzungsrechte, das Bohren von Brunnen oder auch nur das Sammeln von Regenwasser in Zisternen war nur mehr mit einem Erlaubnisschein  möglich ("Permit-System") und alle vorher geltenden Regelungen wurden ausser Kraft gesetzt.
  4. Das zentrale palästinensische Bergland ist der Wasserspeicher von Palästina und Israel. Der östliche Grundwasserstrom fließt in die sehr fruchtbare Jordansenke hin ab. Dadurch gäbe es auch im Jordangraben genügend, durch Grundwasserbrunnen leicht erschließbares Wasser um eine ertragreiche Landwirtschaft zu betreiben. Israel hat aber diesen Bereich zur militär-strategischen Sicherheitszone erklärt und will die arabische Bevölkerung dort weghaben. Im Trump-Plan[1] war der Jordangraben daher zur Annexion durch Israel vorgesehen. Dementsprechend bekommen Palästinenser:innen keine Erlaubnis Brunnen zu bauen oder auch nur in Zisternen Regenwasser zu sammeln. Entsprechende Einrichtungen werden immer wieder von der Armee zerstört. 
  5. Der sehr wasserreiche westliche Grundwasserstrom fließt zur dichtbesiedelten und landwirtschaflich intensiv genutzten israelischen Küste hin ab. Israel hat hier unzählige Grundwasserbrunnen errichtet, verhindere aber, dass die PalästinenserInnen im Oberlauf dieser unteridischen Strömung  selbst Brunnen bauen.
  6. Die systematische Verhinderung einer palästinensischen Eigenversorgung mit Wasser  durch die Militärregierung findet im gesamten Westjordanland statt. Vor allem in der Nähe völkerrechtlich illegaler bestehender oder geplanter Siedlungen, im Bereich großer Militärsperrgebiete oder auch unter der Vorgabe der geplanten Errichtung von Naturparks wird diese Politik hart umgesetzt.  Vor allem seit 2011 ging die IDF[2] zur direkten Zerstörung bestehender Anlagen über. Dutzende palästinensische Brunnen, Quellen und Wasserleitungen, hunderte Zisternen und unzähliche Wassertanks wurden von der Armee zerstört.
  7. Im Oslo II-Vertrag wurden der palästinensischen Autonomieverwaltung/PA[3] Nutzungsmengen des aus den im palästinensischen Bergland entströmenden  Wasserdargebots zugestanden. Nach den politisch-taktisch angenommenen, wissenschaftlich nicht belegten Zahlen nutzte Israel damals 483 Mio. m3/Jahr. Der palästinensische Bedarf wurde auf 118 Mio. m3/J geschätzt. In einer vagen Formulierung wurden der palästinensischen Autonomieregierung die zukünftige Nutzung weiterer  100 Mio. m3/J zugestanden. Aufgrund der restriktiven Bewilligungsprasis der IDF für Grundwasser-Neuerschließungen, der verweigerten Erlaubnis bestehende Anlagen funktionstüchtig zu erhalten oder solche gar zu zerstören, wurden aber die palästinensischen Nutzungrechte keineswegs auf 218 Mio. m3/J ausgeweitet, sondern sanken um 25 Mio m3/J auf 93 Mio m3/J ab.
  8. Der Pro-Kopf-Verbrauch zwischen den Menschen innerhalb Israels und den arabischen BewohnerInnen  der Westbank ist extrem ungerecht verteilt. Die Welt-Gesundheits-Organisation/ WHO hat den täglichen individuellen Wasserbedarf einer Person für ein menschenwürdiges Leben (Nahrung, Hygiene und Reinigung) auf 100 Liter/Tag festgelegt. Nur 16% der palästinensischen Bevölkerung der besetzten Gebiete liegen über diesem Wert. 42 % können zwischen 50 und 100 l/Tag verbrauchen, 36% zwischen 30 und 50 l und 7% gar weniger als 30 Liter am Tag.  Hingegen stehen den Israelis durchschnittlich 260 l/Tag zur Verfügung.
  9. Zur Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser hat der Oslo II – Vertrag der PA zwar die Gründung einer eigenen palästinensischen Wasserbehörde zugestanden, hat ihr aber keine Kompetenzen gegeben, die Wassernot der Bevölkerung durch Trinkwasserneuerschließungen zu beheben. Wasserleitungen innerhalb der größeren palästinensischen Städte können gewartet werden, sinnvolle neue  Wasserverteilungsnetze zwischen diesen dürfen aber nicht errichtet werden.
  10. Extrem ist der israelische Wasserverbrauch im Bereich der Landwirtschaft. Der israelischen Industrie schreibt Messerschmid zwar ein ausgeklügeltes, sparsames Wassermanagement zu, die Landwirtschaft bewässere aber entgegen der weitverbreiteten israelischen Propaganda ("Hasbara") exzessiv. Dadurch komme der israelische Gesamtwasserverbrauch pro Kopf auf 700 l/T.
  11. In der Politikstrategie Israels ist der Zusammenhang der Wasserfrage mit der Landfrage eng verknüpft. Wenn Israel z.B. aufgrund des Drucks seiner Siedlerinnen ein Stück agrarisch genutzes Land haben will, zerstört es dort die Wasserversorgung und unterbindet seine Wiedererrichtung. Z.B. sind palästinensische Bauern zur Tränke ihrer Tiere auf Regenwasser-Zisternen angewiesen. Werden diese von der Armee zerstört und wird das Land dann drei Jahre hindurch nicht genutzt, so ermöglicht es das Gesetz, dass dieses Areal als Staatsland (z.B. für) beschlagnahmt und für den Siedlungsbau, zur Errichtung von Militärzonen oder Aufforstungen umgewidmet werden kann. 
  12. Zur Lösung der palästinensischen Wassermisere gibt es drei einfache, leicht umsetzbare Notwendigkeiten: "1. Brunnen bauen, 2. mehr Brunnen bauen, 3. noch mehr Brunnen bauen".
  13. In einer unverbindlichen Formulierung des Oslo II-Vertrags ist den   Palästinenser:innen die  Grundwassererschließung als Hauptansatz zur Lösung palästinensischer Wassernöte in Aussicht gestellt worden. Sie wurde auch engagiert in Angriff genommen, steckt aber aufgrund der extrem restriktiven israelischen Bewilligungspraxis  seit Ende der 1990er-Jahre fest.
  14. Extrem kritisch sieht Messerschmid auch die Rolle der europäischen Fördergeber. Diese haben zwar zunächst großzügig Gelder für den Brunnenbau bereit gestellt, weil die Brunnenprojekte aber von Israel schikanös  verzögert oder aber schlicht nicht bewilligt worden sind, wurden sie in den nächsten Jahren dann gar nicht mehr budgetiert. Dafür werden absurde Kleinstaktivitäten finanziert, etwa Schulungen für palästineische Schüler:innen zum individuellen Wassersparen.
  15. Dabei sei Israel durchaus anfällig für entschlossen ausgeübten Druck von außen. Auch die EU hat mit dem EU-Israel-Assoziationsabkommen aus dem Jahr 2000 einen mächtigen Hebel in der Hand. Die EU hat Israel damals Handelsprivilegien eingeräumt, wie sie kein anders Nicht-EU-Land hat. Im Art. 2 hat sich Israel in seiner inneren und äußeren Politik zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet. Und der Art. 82 ermöglicht jeder Seite die einseitige Kündigung der Vertrages. Allein diese Androhung würde genügen, um Israel zu einer Veränderung seiner Politik zu zwingen. Das bleibe aber aus. In einzelnen Fällen der notwendigen Umsetzung von Brunnenprojekten, für die  Fördermittel der GIZ[4] bereit liegen, wäre auch ein klares Wort einer deutschen Kanzlerin oder eines Ministers bei einem Israelbesuch hilfreich. Auch das geschehe nicht.
  16. "Rein von den Wasserzahlen her betrachtet, erleben die PalästinenserInnen aufgrund der Politik Israels in den "Besetzten Gebieten" jeden Tag etwas, was in den Auswirkungen einem Erbeben oder eine Überschwemmung gleichkommt". (Messerschmid). 
  17. Die einzig angemessene Bezeichnung der Herrschaft Israels in den besetzten Gebieten  ist die einer Militärdiktatur.  Nur dieser Begriff erklärt den realen und absolut willkürlichen Charakter dieser Machtausübung. Auf den Bereich der Wasserwirtschaft trifft das ganz besonders zu. Hier treibt Israel seinen Ressourcen-Egoismus auf die Spitze.

 

Auf die technisch und hydro-politisch völlig anders gelagerte Problematik der Wasserproblematik in Gaza ging der Referent aus Zeitmangel nicht ein.

 

Die Zuhörerinnen der Vorträge erlebten einen exzellenten Vortragenden, der es verstand, seine detailreiche Sachkompetenz immer wieder anschaulich mit dem übergeordneten historischen und politischen Narrativ der strukturellen Apartheid und Unterdrückung zu verknüpfen. Im Interesse der Sache des seit Jahrzehnten hart um seine Freiheit ringenden palästinensischen Volkes, ist Palästina-solidarischen Menschen und Gruppen zu empfehlen, Messerschmid zu weiteren Veranstaltungen im deutschen Sprachraum einzuladen.

 

 

Franz Sölkner,

Thal, am 10. Sept 2021

 

[1]     Dieser war über Jared Kushner, seinen Schwiegersohn und Freund Netanjahus, natürlich eng mit Israel abgestimmt.

[2]     Israeli Defence Forces = Israels Armee

[3]     PA = Palästinensische Autorität. Der Oslo II-Vertrag  hat das Westjordanland dreigeteilt. Alle drei Zonen unter stehen letztlich der Militärregierung Israels. Die Zone A (ca. 18%) umfasst die großen palästinensischen Städte. Hier hat die PA weitgehende zivile Kompetenzen einschließlich der polizeilichen Agenden. In der Zone B (ca. 20%) liegen verdichtete, meist kleinstädtische Siedlungsgebiete. Sie werden von der Militärregierung und der PA gemeinsam verwaltet. Die Zone C (ca. 62%) sind ländliche Regionen mit geringer arabischer Bevölkerungsdichte. Sie untersteht in allen Fragen allein der Militärregierung. Hier treibt Israel seine Siedlungspolitik voran und hat das deutlich erkennbare Ziel, sie mittel- oder längerfristig zu annektieren (z.B. Trump-Plan)

[4]     Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH: Sie ist die Auftragnehmerin der Ministerien der Deutschen Bundesregierung zur Umsetzung entwicklungspolitischer Projekte.