Sheikh Jarrah: Eine menschenrechtliche Tragödie vollzieht sich in Ostjerusalem

Bilderklärung: Palästinensische Demonstranten schwenken ihre Nationalflagge bei einem Protest gegen die Vertreibung einiger Palästinenser aus Sheikh Jarrah in Ostjerusalem am Freitag, 16. April 2021 (Aaron Boxerman/The Times of Israel)

Zusammenfassung:

Sheikh Jarrah, ein vorwiegend arabisches Viertel nördlich der Ostjerusalemer Altstadt, dessen Name außerhalb des Landes allenfalls Insidern bekannt war, avancierte im Frühjahr 2021 zu einem Brennpunkt medialer Berichterstattung. Noch bevor die israelischen Sicherheitskräfte im April ihre repressiven Maßnahmen an der Al-Aqsa-Moschee und am Damaskustor durchzusetzen begannen, hatte sich im Internet die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, dass in Sheikh Jarrah ansässige palästinensische Familien seit geraumer Zeit einen juristischen Endkampf gegen die Enteignungsklagen korrupter Siedlerorganisationen um den Erhalt ihres Wohnraums führen – vor dem Höchstgericht, zunehmend aber auch demonstrierend auf der Straße, begleitet von einer rasant wachsenden Zahl solidarischer Unterstützer/innen, die über die sozialen Medien vernetzt sind (#SaveSheikhJarrah). Angesichts der drohenden Ausweisungen erregte die versuchte Unterdrückung der Proteste durch schikanöse Polizeipräsenz und aggressive Siedlergewalt internationales Aufsehen.

Aber stimmt der Eindruck, es handle sich nur um einen „Immobilienstreit“? Oder steckt eine von langer Hand geplante geopolitisch-demografische Strategie dahinter, ein zielgerichteter, schleichender Prozess, den die israelische Rechte selbst zutreffend als „Judaisierung“ bezeichnet? Die vorliegende Dokumentation bietet anhand der „Sheikh Jarrah-Kontroverse“ eine überschaubare Darstellung der umfassenden Kolonisierungspraxis des Besatzerstaates und richtet den Fokus auf die „symbiotische Verbindung“ von Staat und Siedlern und das von ihr verfolgte „Ziel, die Kontrolle über Ostjerusalem durch eine 'Entarabisierung' zu Lasten seiner palästinensischen Bevölkerung und seines arabischen Erbes zu erreichen“ (Dr. Meir Margalit, Historiker und ehemaliges Mitglied der Jerusalemer Stadtverwaltung).

Inhaltsübersicht:

1.   Worum es geht

2.   Israel, eine klassische Ethnokratie

3.   Geschichtlicher Rückblick

4.   Die Teilung der Stadt

5.   Die Sheikh Jarrah-Kontroverse und ihre Vorgeschichte

6.   Der Räumungsfall der Familie al-Kurd als Exempel

7.   Weitere drohende Zwangsräumungen

8.   Die Sicht der internationalen Staatengemeinschaft

9.   Der politisch-ideologische Hintergrund: Die „Judaisierung“ Ostjerusalems

10. Die „Konfrontationen“

Exkurs

Fazit

 

1. Worum es geht

Was uns in einem demokratischen Rechtsstaat unvorstellbar erscheint, vollzieht sich schon seit Jahrzehnten in der sogenannten „einzigen Demo­kratie des Nahen Ostens“, im Staate Israel:

Gerichtliche Verfahren zur Aberkennung von Besitzrechten und zur Enteignung, Delogierung und Vertreibung alteingesessener, friedlicher Hausbewohner von ihrem erworbenen Besitztum – allein deshalb, weil sie nicht derselben Religion und ethnischen Herkunft angehören wie die herrschende politische Elite in Israel. Darum sind sie verbalen und physischen Angriffen durch regierungsnahe orthodoxe Ultranationalisten bis hin zu polizeilichen Schikanen und Übergriffen aus­gesetzt, und schließlich sehen sie sich mit legisti­schen Machenschaften dubioser Immobilienorga­nisationen konfrontiert, gegen die sie nur versu­chen können, sich juristisch zu wehren – mit er­drückenden Kosten ihrer Rechtsverteidigung.

2. Israel, eine klassische Ethnokratie

Die Basis dafür, dass israelische Gerichte solchen Enteignungsklagen stattgeben, bietet die diskrimi­nierende Gesetzgebung des Staates. Dieser hat statt einer Staatsverfassung Grundgesetze erlas­sen, durch die er sich als exklusiv „jüdisch“ defi­niert, ungeachtet seines 24%igen nichtjüdischen Bevölkerungsanteils.

Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes“, allgemein bezeichnet als „Nationalstaatsgesetz“, lautet seit 2018 das Grundgesetz des Staates Isra­el, das (1) dessen „jüdischen Charakter“, (2) Israel als die „nationale Heimstätte des jüdischen Vol­kes“ und (3) das vereinte Jerusalem als Hauptstadt festschreibt. (4) Hebräisch wurde zur alleinigen Nationalsprache erklärt, während Arabisch, das in Israel bis dahin ebenfalls offizielle Sprache war, nur noch einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt. (5) Betont wird in dem Gesetz auch, dass [ethnisch reine] jüdische Siedlungen in Israel im Interesse des Nationalstaates seien.

Im Fall Ostjerusalems, dessen Bevölkerung seit jeher vorherrschend arabisch ist, kommt erschwe­rend hinzu, dass es sich um einen Teil Palästinas handelt, das seit 1967 vom israelischen Militär völkerrechtswidrig okkupiert, inzwischen aber als staatliche Einheit von derzeit 138 UN-Mitglieds­staaten anerkannt ist, u. a. von Schweden. Somit verletzt die Beschlagnahme von palästinensischem Privateigentum in Ostjerusalem auf Basis israeli­scher Enteignungs- und Vertreibungsgesetze auch das humanitäre Völkerrecht und die IV. Genfer Konvention (bes. Art. 49) und bedeutet nach Meinung namhafter Völkerrechtsexperten ein permanentes Kriegsverbrechen gemäß dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).

3. Geschichtlicher Rückblick

Sehen wir uns die historische Vorgeschichte an: Nach den gescheiterten Aufständen jüdischer Rebellen gegen die römische Oberhoheit 70 und 136 CE (n. Ch.) lag Jerusalem komplett in Trüm­mern. Darauf gründete Kaiser Hadrian eine Kolo­nie namens „Aelia Capitolina“ ohne Stadtmauern, deren Hauptachsen nach römischer Stadtbauweise die Struktur der Altstadt bilden (cardo N-S-Achse und decumanus O-W-Achse). Das Land zwischen Jordanfluss und Mittelmeer hieß fortan „Palästina“.

Die heutige imposante Stadtmauer der (lange Zeit weitgehend bedeutungslos gebliebenen) Stadt wurde erst während der osmanischen Ära im 16. Jhdt. gebaut. Nach deren Ende (1917) unter­stellte 1922 der Völkerbund Palästina der inter­imsmäßigen Verwaltung Großbritanniens. Diese endete im Mai 1948, worauf die seit den 1870er Jahren aus Europa einwandernden und die ansässi­ge Bevölkerung verdrängenden zionistischen Kolo­nisten einen „jüdischen“ Staat unter dem Namen „Israel“ ausriefen. Doch schon seit 1947 hatten jüdische Untergrundmilizen und paramilitärische Terroreinheiten begonnen, Häuser in die Luft zu sprengen, friedliche arabische Dörfer anzugreifen, zu plündern und dem Erdboden gleichzumachen und darauf jüdische Siedlungen oder Naturschutz­gebiete anzulegen. Die überwiegende Mehrheit der wohlhabenden palästinensischen Gemeinde in Westjerusalem (etwa 28.000) sah sich in Voraus­ahnung der kommenden Kämpfe genötigt, ihre Besitzungen ohne Entschädigung rechtzeitig zu verlassen und sich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Fast alle Zurückgebliebenen dagegen sind in der Endphase des Vorrückens der jüdischen Milizen massakriert oder vertrieben worden (> Video). Nach vorsichtigen Schätzungen waren vor 1948 30 % der Immobilien in Westjerusalem im Besitz von arabischen Einwohnern gewesen.

4. Die Teilung der Stadt

Der Vormarsch der zionistischen Milizen 1948 wurde durch arabische Freischärler und die Ara­bische Legion aus dem Osten gestoppt, sodass die Kämpfe nach politischem Druck der Großmächte schließlich Anfang 1949 zum Erliegen kamen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zionisten widerrecht­lich weite Gebietsteile erobert, die sie selbst als dem arabischen Volk vorbehaltenen Teil Palästinas laut UN-Teilungsplan (1947) vorgeblich anerkannt hatten. Die ausgehandelte Waffenstillstandslinie – seither als „Grüne Linie“ völkerrechtlich aner­kannt – verlief fortan mitten durch die Stadt Jeru­salem und trennte sie in einen West- und einen Ostteil. Während viele der arabischen Westjeru­salemer in den Ostteil flüchteten, wurde die Minderheit der jüdischen Bewohner des Ostteils durch die zionistische Untergrundarmee Hagana gezwungen, ihre Wohnsitze zu verlassen und in den Westteil zu übersiedeln. Dort wurden die be­schlagnahmten und meist voll eingerichteten paläs­tinensischen Häuser (etwa 10.000) an sie verteilt. Zusätzlich erhielten sie eine Entschädigung vom israelischen Staat für ihr zurückgelassenes Eigen­tum im Osten. Der 1942 in Sheikh Jarrah gebo­rene ehemalige israelische Generalstaatswalt Michael Ben-Yair war einer von ihnen. Er schrieb:

„Wir waren nicht die einzigen, die Ersatzwohnungen erhielten, die geflüchteten Arabern gehört hatten. Alle Bewohner des Wohnviertels Sheikh Jarrah/­Shimon Hatzadik erhielten Ersatzwohnungen in Immobilien, die von nach Ostjerusalem geflohenen Arabern aufgegeben worden waren.“

Im Gegensatz dazu wurde den arabischen Flücht­lingen – nicht nur aus dem Westteil – das Recht auf Entschädigung mittels diskriminierender Ge­setze wie den mehrmals (1950-1973) erweiterten „Absentees' Property Laws“ verweigert, die nur für „abwesende“ – geflohene oder vertriebene – Nichtjuden angewendet werden. Insgesamt verlo­ren 1947-1949 750.000 Palästinenser/innen ihre Heimat durch Flucht und Vertreibung, und mehr als 500 ihrer Dörfer wurden in den Gebieten, die unter israelische Kontrolle fielen, plattgemacht (s. o.) oder mit jüdischen Einwanderern besetzt.

5. Die Sheikh Jarrah-Kontroverse und ihre Vorgeschichte (ausführlich > hier)

Das Ostjerusalemer arabische Dorf Sheikh Jarrah (aš-Šaiḫ Ǧarrāḥ) nördlich der Altstadt ist nach dem 1201 dort begrabenen Leibarzt Saladins, Scheich Dscharrah, benannt. Im 19. Jahrhundert (1865) wurde begonnen, Wohnhäuser auch für muslimische Persönlichkeiten aus der Altstadt zu bauen, wodurch der Ortskern wuchs.

In der Nähe befindet sich auch ein Schrein, der nach mittelalterlicher Pilgertradition für das Grab des jüdischen Hohenpriesters „Simon des Gerech­ten“ (Shim'on HaTzaddik, 3. Jhdt. BCE) gehalten wurde. Aufgrund einer 1871 entdeckten Inschrift sind sich Historiker und Archäologen jedoch einig, dass es sich nicht um dessen Grab handeln kann, sondern wohl um die Grabstätte einer römischen Matrone namens Julia Sabina aus dem 2. Jhdt. CE.

1875 eigneten sich zwei jüdische Komitees nahe dem Schrein zwei Grundstücke an – angeblich durch Kauf (es existiert keine entsprechende Ein­tragung im türkischen Grundbucharchiv) – und er­richteten darauf 1890 kleine Ansiedlungen.

Bei der osmanischen Volkszählung 1905 wurden in Sheikh Jarrah 167 muslimische, 97 jüdische und 6 christliche Familien (vorwiegend evangelische) gezählt. Bis 1947/48 lebten sie am Ort friedlich neben einander.

In den 1950er Jahren unter jordanischer Verwal­tung errichteten die jordanische Regierung und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA auf unbe­baut gebliebenen Teilen des Grundstücks 28 kleine Wohneinheiten für arabische Flüchtlingsfamilien aus Westjerusalem, Jaffa, Haifa und Salafind, die 1948 aus ihren Häusern ohne Rückkehrrecht vertrieben worden waren. In den 1960er Jahren wurde eine Vereinbarung getroffen, dass sie darin drei Jahre als geschützte Mieter wohnen könnten und danach das Eigentum an den Häusern mit Grundstücksurkunden erhalten würden. Als Gegenleistung mussten sie auf ihre Flüchtlings­dokumente und die damit verbundenen Rechte verzichten. Dieser Prozess wurde durch den Ausbruch des Sechstagekrieges unterbrochen, als Israel das Westjordanland samt Ostjerusalem ero­berte und illegal besetzte und Jordanien die Kon­trolle über die Gebiete verlor. (Allerdings hat kürzlich die jordanische Regierung 14 Abkommen aus den 1960er Jahren mit palästinensischen Fami­lien in Sheikh Jarrah ratifiziert, um deren Position gegenüber israelischen Gerichten zu stärken.)

Infolge der israelischen Eroberung Ostjerusalems 1967 kam es neuerdings zu Flucht und Vertrei­bung palästinensischer Einwohner. Der Staat be­schlagnahmte ihr Eigentum – abertausende Hek­tar –, um riesige jüdische Stadtviertel zu bauen. Entgegen der Zusage des Justizministers 1968, die UNRWA-Vereinbarung einzuhalten, erließ der Staat 1970 ein Gesetz, das es Juden ermöglichte, ehemaliges Eigentum in Ostjerusalem zurückzufor­dern, obwohl sie bereits enteignetes palästinensi­sches Eigentum als Entschädigung erhalten hatten (s. o.). So zogen die jüdischen Komitees 1972 vor Gericht, um das Eigentum an den Grundstücken in Sheikh Jarrah anzufechten. Siedlerunternehmen wie „Nahalat Shimon International“ stürzten sich auf die 1948 verlassenen jüdischen Grundstücke und begannen, mit fragwürdigen Mitteln und der Rolle staatlicher Behörden 1972-1982 die ver­meintlichen Rechte daran von angeblichen Erben und den jüdischen Komitees (s. o.) zu erwerben. 2008 legte Nahalat Shimon der Stadtverwaltung einen Plan vor, um das Viertel abzureißen und 200 Wohneinheiten zu bauen (Bebauungsplan 12705).

6. Der Räumungsfall der Familie al-Kurd als Exempel

Im Jahr 2001 brachen religiös-nationalistische Siedler in einen versiegelten Teil des Hauses der 1948 aus Haifa stammenden palästinensischen Flüchtlingsfamilie al-Kurd in Sheikh Jarrah auf dem strittigen „Shim'on HaTzaddik“-Gelände ein und weigerten sich, es zu verlassen, da sie behaupte­ten, das Grundstück gehöre Juden. Das Jerusale­mer Bezirksgericht entschied 2008, dass es auf­grund eines von den Anwälten der jüdischen Fami­lien vorgelegten Kaufvertrags aus der osmanischen Ära dem jüdischen Komitee gehört habe, das die Rechte an eine Siedlerorganisation übertragen hatte. Das Gericht urteilte zwar, dass die al-Kurds bleiben konnten, sofern sie Miete an die Siedler­organisation zahlten, aber nachdem diese dies ver­weigerten, da sie sich als Eigentümer betrachten, entschied das Gericht auf Zwangsräumung.

Ein Jahr danach (2009) konnten die Anwälte der Palästinenser Dokumente aus den osmanischen Archiven Istanbuls vorlegen, die belegten, dass das Grundstück, von dem die jüdische Organisation behauptete, nunmehr Eigentümerin zu sein, nur gepachtet war, und sie somit nicht die rechtmäßige Eigentümerin sein kann. Darüber hinaus behaup­teten die palästinensischen Familien und ihre Unterstützer, dass der Kaufvertrag, den die Anwälte der jüdischen Familien vorgelegt hatten und der vom Obersten Gerichtshof bestätigt worden war, in Wirklichkeit eine Fälschung sei und daher das ursprüngliche Urteil und damit auch die Räumungen rückgängig zu machen seien. Die Aufforderung der Familie al-Kurd an das Gericht, die neuen Beweise zu prüfen, wurde mit dem Hin­weis der „Endgültigkeit“ abgelehnt („zu spät“).

7. Weitere drohende Zwangsräumungen

Mit Stand von 2016 waren in Ostjerusalem laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koor­dinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) gegen mindestens 180 palästinensische Haushalte Räumungsklagen eingereicht. Infolgedessen waren 818 Palästinenser, darunter 372 Kinder, von der Vertreibung bedroht.

Dutzende Familien aus Sheikh Jarrah wurden in den Jahren 2002, 2008, 2009 und 2017 vertrie­ben, und jüdische Familien zogen ein, nachdem der Oberste Gerichtshof ähnliche Entscheidungen zugunsten israelischer religiös-nationalistischer Familien getroffen hatte. Derzeit (Okt. 2021) sind gerichtliche Zwangsräumungen von 13 Familien mit 58 Personen in Schwebe, darunter 17 Kinder.

8. Die Sicht der internationalen Staaten­gemeinschaft

Aufgrund der Völkerrechtswidrigkeit der Anne­xion Ostjerusalems 1980 durch das israelische Parlament ist die Anwendung israelischer Boden- und Eigentumsrechte auf diese Grundstücke „null und nichtig“. Eine ganze Kette von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats behandelt den Status Jeru­salems: Israel verstößt unter anderem gegen die SR-Resolutionen 252 (1968), 267 (1969), 471, 476, 478 und 465 (alle 1980). Als UNO-Koordinator für den Friedensprozess im Nahen Osten verur­teilte Robert Serry die israelischen Gerichtsent­scheidungen zu den Zwangsräumungen in Sheikh Jarrah. Das US-Außenministerium bezeichnete sie als Verstoß gegen Israels Verpflichtungen im Rahmen der „Roadmap for Peace“, dem 2003 von dem sog. Nahost-Quartett entwickelten „Fahrplan für den Frieden“ (UN-Resolution 1515). Israel fühlt sich jedoch daran nicht gebunden.

Human Rights Watch“ (HRW) veröffentlichte eine Erklärung im Mai 2021, in der es hieß, dass die ungleichen Rechte zwischen palästinensischen und jüdischen Bewohnern Ostjerusalems …

„… die Realität der Apartheid unterstreichen, mit der die Palästinenser in Ostjerusalem konfrontiert sind“. (>>> Video)

Israelische Menschenrechtsgruppen schätzen, dass mittlerweile mehr als 1.000 palästinensische Fami­lien in Ostjerusalem von Vertreibung bedroht sind.

9. Der politisch-ideologische Hintergrund: Die „Judaisierung“ Ostjerusalems

Laut Nachrichtenagentur Middle East Eye ist der (vermeintliche) „Immobilienstreit“ Teil der Sied­lungsstrategie der israelischen Regierung für Ost­jerusalem (vgl. Israeli Masterplans for Jerusalem).

Aryeh King, stellvertretender Bürgermeister und einer der Gründer der illegalen jüdischen Siedlung Ma'ale HaZeitim am Ölberg, erklärte diese ethni­schen Säuberungen gegenüber der New York Times (7. Mai 2021) damit, dass die Vertreibung palästinensischer Familien „natürlich“ Teil einer städtischen Strategie sei, um in ganz Ostjerusalem „Schichten von Juden“ zu schaffen.

Der israelische Historiker Dr. Meir Margalit, ehe­maliges Mitglied der Jerusalemer Stadtregierung, konstatierte (Studie: „Kontrolle. Strategie und Praxis der Siedlerbewegung in Ost-Jerusalem“ 2012, S. 48. Diese Studie entstand auf der Basis des Artikels„Seizing Control of Space“ 2010):

„Es war nie die israelische Absicht, den palästinensi­schen Teil in der Stadt zu integrieren. Israel wollte das Land, nicht die Menschen, und deshalb hat der Staat diese zweischneidige Politik betrieben: Ein­schluss des Landes, Ausschluss der Bevölkerung.“

Die beiden „umstrittenen“ kleinen Grundstücke nahe der jüdischen Grabstätte (s. o.) befinden sich nach derzeitigem Stand offiziell im Besitz einer rechtsgerichteten Siedlerorganisation, die von einer Strohfirma (straw company) gehalten wird, die wiederum über eine Pyramide von ausländi­schen Steuerparadiesen wie Delaware und den Marshallinseln registriert ist, wodurch es unmög­lich ist zu erfahren, wer Aktien des Unternehmens besitzt. Die Unternehmer haben sich auf den Kauf von Grundstücken im ganzen Westjordanland und die Vertreibung seiner Bewohner spezialisiert.

10. Die „Konfrontationen

In den letzten Jahren haben israelische Siedler ihre Bemühungen verstärkt, die Kontrolle über Grund­stücke in palästinensischen Vierteln in Ostjeru­salem zu übernehmen. Die Übernahme dieser Grundstücke durch Siedler wie in Sheikh Jarrah verschärfte die Zwangslage der Palästinenser/innen und führte zu Einschränkungen des öffentlichen Raums, der Wohnbebauung und ihrer Bewegungs­freiheit durch Checkpoints und zu „Spannungen“ und „Zusammenstößen“. (Euphemistische Begriffe wie diese sind geeignet, die einseitige Anwendung brutaler Gewalt (>>> Video) durch die israeli­schen Sicherheitskräfte zur Unterdrückung friedlicher Proteste gegen Zwangsräumungen und Hauszerstörungen in den westlichen Medien zu verschleiern.)

Anfang Mai 2021 gerieten erstmals aus Anlass der Enteignungsbestrebungen Palästinenser und israeli­sche Siedler in Sheikh Jarrah aneinander. Einige Demonstranten hatten begonnen, kleine palästi­nensische Flaggen zu schwenken. Die Polizei griff die Demonstranten gewaltsam an, entriss ihnen widerrechtlich die Fahnen und nahm vier Personen fest. Die Demonstration löste sich in Wut und Frustration über das Vorgehen der Polizei auf.

Zum Fastenbrechen hatten Palästinenser in Sheikh Jarrah nächtliche „Iftars“ (das abendliche Mahl während des Ramadam) im Freien abgehalten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite richtete am 6. Mai der rechtsextreme Knesset-Abgeordnete Itamar Ben-Gfir provozierend zusammen mit Ben-Zion „Bentzi“ Gopstein sein „Büro“ ein – mit einem Tisch unter einem Baldachin (>>> Foto).

Auf Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie ein Israeli den palästinensischen Iftar-Tisch mit Pfefferspray besprühte, was zu gewaltsamen Zu­sammenstößen führte und Demonstranten beider Seiten einander mit Steinen und Stühlen bewarfen. Die israelische Polizei griff ein und nahm mindes­tens 15 Personen fest, allesamt Palästinenser.

Exkurs:

Sowohl Ben-Gfir als auch Gopstein sind Schüler des orthodoxen Rabbiners und rassistisch-ultranationalis­tischen Politikers Meir Kahane (1932-1990).

Bentzi Gopstein ist Gründer und Direktor der jüdi­schen Anti-Assimilations-Organisation Lehava (21. April 2021: „Tod den Arabern!“). Er hatte 2003 Baruch Goldsteins Massenmord in der Hebroner Ibrahimi Moschee von 1994 gelobt. In einem 2015 mitgeschnittenen Vortrag forderte er unter Berufung auf Maimonides das Niederbrennen christlicher Kir­chen und später die Ausweisung der Christen sowie das Verbot von Weihnachtsfeiern in Israel.

Itamar Ben-Gfir ist Vorsitzender der neo-kahanisti­schen, religiös-zionistischen Knesset-Partei „Otzma Jehudit“. [Ende Exkurs]

Fazit:
Die drohenden Ausweisungen werden als „Anlass“ (Heinz Gärtner) und Brennpunkt der israelisch-palästinensische Krise von 2021 angesehen.

Quellen: Ha’aretz-Dokumentationen, Wikipedia (Sheikh Jarrah, Sheikh Jarrah Controversy, Scheich Dscharrah), Occupied New, OCHA, Ir Amim, u. a.

Fritz Weber, 16. Oktober 2021