„Gaza-Nakba 2023“ – ein epochaler Nahost-Wendepunkt in zweifacher Hinsicht

Aus der langen Kette „epochaler Wendepunkte“ in der Geschichte des sogenannten Nahost-Konflikts sticht das Grauen der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und seiner Folgen besonders hervor. Was kennzeichnet diesen Wendepunkt als „epochal“?

  1. Zur Vorgeschichte

Nach dem Ende der Zweiten („Al-Aksa“-) Intifada – offiziell im Februar 2005 – erstarkten die religiös-rechtsextremen, vom jüdischen Messianismus inspirierten politischen Kräfte immer mehr, eroberten systematisch die Zentren der Macht in Israel mit allen Konsequenzen und rissen die Deutungshoheit dessen an sich, was „jüdische Identität“ sein soll – insbesondere im Blick auf die nationalreligiöse Bedeutung des Tempelberges für den politischen Neozionismus. Dazu kämpften sie, seit 2015, unver­hohlen um das Zurückdrängen der ohnedies schwachen Errungenschaften demokratischer Institutionen, allen voran des Einflusses des Obersten Gerichtshofes als einzigem Garanten einer Gewaltentrennung zur Kontrolle parlamentarischer Gesetzgebung im Staat Israel.

Als sich im Herbst 2022 durch die Bildung der Plattform des „Religiösen Zionismus“ abzeichnete, dass die bevorstehende Wahl zur 25. Knesset am 1. November zu einer rechtsextrem-rassistischen Mehrheit führen könnte, wurden die als liberal geltenden Kräfte im In- und Ausland plötzlich nicht müde, vor einer möglichen Regierung zu warnen, die zur Legitimierung des in den 1990er Jahren als rassistisch eingestuften und verbotenen Kahanismus führen könnte, nunmehr in einem anderen Gewand und repräsentiert durch den Kahanisten Itamar Ben-Gvir und seiner Partei „Otzmā Jehudīt“ (Jüdische Kraft) sowie in weiterer Folge durch den Frontmann des „Religiösen Zionismus“, Bezalel Smotrich, beide mit strafrechtlich relevanter, terroristischer Vorgeschichte.

  1. Die Rückkehr des Kahanismus in die Knesset

Tatsächlich gelang es dem lange Jahre international hofierten Nationalisten Benjamin Netanjahu (Likud) im darauffolgenden Dezember 2022, eine Regierungskoalition (Netanjahu VI) zu bilden, die fortan als die „rechteste Regierung in der Geschichte Israels“ tituliert (und kritisiert) wurde. Den beiden genannten religiös-nationalistischen Rechtsextremisten Ben-Gvir und Smotrich gestand der Wahlgewinner Netanjahu zwei der einflussreichsten Ministerposten zu: das Ministerium für Nationale Sicherheit (Ben-Gvir) und das Finanzministerium (Smotrich). Letzterer – unerfahren in militärischen Belangen – hatte zwar den Ministerposten des Verteidigungsministeriums (als oberste staatliche Behörde über der Militärregierung in den besetzten Gebieten) für eine Regierungsbeteiligung gefordert, um für seine Hauptmission, die ethnischen Säuberungen im Westjordan­land zur Freimachung von Land für weitere jüdische Siedlungen, freie Hand zu haben. Schon 2006 hatte er eine der betreffend ihren Einfluss vor Ort effektivsten rechtsgerichteten NGOs gegründet. Diese „Vereinigung zur Wahrung der Siedlerrechte“ mit dem Namen Regavim spürt „nichtgenehmigten“ Bauten von Palästinensern in Israel und im Westjordanland auf, um sie zu überwachen, vor den israelischen Gerichten einzuklagen und ihren Abriss zu betreiben. So behauptet Regavim, dass es ihre Aufgabe sei, „nationales Land zu bewahren“.

Exkurs: Das Narrativ der Kahanisten

Die radikale Ideologie hinter diesem reklamierten Besitzanspruch lautet: Alle Nichtjuden, ungeachtet etwaiger Eigentums­nachweise, die sie vorweisen mögen, seien unrechtmäßige „Eindringlinge“ und „Fremdlinge“ auf nationaljüdischem Land, das „Gott dem jüdischen Volk seit 4000 Jahren für ewige Zeiten zum alleinigen Erbbesitz vermacht“ habe. Ergo, wenn die Palästinenser nicht weichen, seien sie als „Diebe“ anzusehen und müssten mit Gewalt vertrieben werden. – Das ist genau, was jetzt exzessiv geschieht, und niemand hindert sie daran.

Der Haken an diesem religiös-zionistischen Narrativ: Es gibt keine wie immer geartete Möglichkeit der Unterscheidung zwi­schen jüdischen und nichtjüdischen Menschen bzw. wer und auf welcher Grundlage denn diesem „jüdischen Volk“ angehöre, zumal das rabbinische Judentum im 2. Jahrhundert n. Chr. (CE) die Abstammungsdefinition über die Mutter festgelegt hat (Matrilinearität) – fundamental abweichend von der Genealogie der Torah über den Vater (Patrilinearität). Das bedeutet, dass infolge der genetischen Vermischungen, insbesondere durch Proselytenkonversionen ganzer Volksstämme zum Judentum wie der Idumäer (Edomiter), der arabischstämmigen Ituräer, der nordafrikanischen Berber und südarabischen Himjariten (Jemeniten) sowie chasarischen Turkstämme das zionistische Narrativ jegliche Plausibilität (und Legitimität) verloren hat. (Mehr darüber: „Die Demaskierung der zionistischen Abstammungslüge – Jüdischsein liegt nicht in den Genen“, 2023)

  1. Das Westjordanland unter dem Stiefel der Kahanisten

Im Juni 2019, als Bezalel Smotrich bei den – damals letztlich gescheiterten – Koalitionsverhandlungen darauf drängte, zum Justiz­minister ernannt zu werden, erklärte er: „Wir [die religiös-zionistische Rechte] wollen das Justizressort, weil wir das Torah-Justizsystem wiederherstellen wollen“, um das Land „wie in den Tagen von König David“ zu regieren. In Wahrheit geht es jedoch nicht um die biblische Torah, sondern um die nachbiblische Halachā, den rabbinischen Gesetzeskodex des Talmud.

Nachdem sich im Dezember 2022 die US-Administration gegen Smotrichs Ernennung zum Verteidigungsminister quergelegt hatte, wurde, um diesen Einspruch der USA zu umgehen, zwar der erfahrene Yoav Galant als solcher designiert, jedoch erhielt Smotrich einen eigens für ihn geschaffenen Posten eines „Beigeordneten Ministers im Verteidigungsministerium“. Seitdem eskalieren – uneingeschränkt und durch die rechtsextreme Regierungspolitik gefördert* – die gewalttätigen Übergriffe, Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Ermordungen der palästinensischen Bevölkerung sowie die gezielten Zerstörungen ihrer landwirtschaftlichen Erwerbsgrundlagen durch die religiös-zionistischen Siedler, die in dem mystischen Glauben nach der Lehre von Abraham Isaak Kook und seinem Sohn Zwi Jehuda Kook agieren, durch aktives „Reinigen des Landes“ von allem Nichtjüdischen „das Kommen des Messias beschleunigen“ zu können.

*    B'Tselem: "State Business. Israel’s misappropriation of land in the West Bank through settler violence" (November 2021, dt.: Staatsgeschäfte. Israels Landraub im Westjordanland durch Siedlergewalt. ISBN 978-965-7613-52-8)

  1. Der erste Schritt zum totalitären Rabbinerstaat: die „Justizreform“ der Kahanisten

Der neue Justizminister, Yariv Levin, stellte Anfang Januar 2023 öffentlich die Pläne für eine sogenannte „Reform der Regierungsführung“ vor, die mehrere Gesetzesinitiativen zur Einschränkung der Macht des Obersten Gerichtshofs und der Rechtsberater der Regierung umfassen soll. Insbesondere die Pläne für die sogenannte gerichtliche Außerkraftsetzungsklausel würden es der Knesset ermöglichen, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs mit einer knappen Mehrheit von 61 Sitzen im 120 Sitze umfassenden Parlament außer Kraft zu setzen. Levins Plan zielt auch darauf ab, Rechtsvorschriften einzuführen, die den Obersten Gerichtshof daran hindern, Regierungsentscheidungen zu blockieren, die dieser für unangemessen hält.

Daraufhin begann ein Dreivierteljahr andauernder, von der israelischen Demokratiebewegung getragener Protest mit wöchent­lich hunderttausenden Demonstranten in ganz Israel, um diese „Justizreform“, die als „Justizputsch“ einer „faschistischen Regierung“ verstanden wurde, mit allen Mitteln zu bekämpfen und zu verhindern. Auf ihrer Seite standen auch maßgebliche internationale Medien bei ihrer Berichterstattung. Benjamin Netanjahu wurde nunmehr als Initiator und Führer seines überwiegend rassistisch-rechtsextremen Regierungskabinetts wahrgenommen, das unbeirrt mittels Mehrheit in der Knesset rücksichtslos seine demokratieschwächen­de, illiberale Agenda vorantrieb. Nunmehr beinahe als Paria behandelt, wartete Netanjahu vergeblich auf eine Einladung des Weißen Hauses zum Antritts­besuch als neuer Regierungschef.

  1. Die epochale Wende zugunsten der Ziele der Kahanisten

Doch nach dem 7. Oktober war plötzlich alles anders. Vorbei schien die Spaltung in der israelischen Gesellschaft, die nun weitgehend geschlossen hinter Netanjahus angekündigtem Rachefeldzug des kurzfristig gegründeten „Kriegskabinetts“ „gegen Hamas“ steht und das wochenlange Gaza-Bombardement mit dem Argument des „Rechts auf Selbstverteidigung“ verteidigt.

Der israelische Landwirtschaftsminister und ehemalige Innengeheimdienst-Chef Avi Dichter (Likud), Mitglied des Kriegs­kabinetts, sagte am 11. November im Interview mit dem israelischen Fernsehsender Channel 12, dass eine großflächige Vertreibung der Menschen aus Gaza-Stadt unvermeidlich sei. Auf die erneute Frage, ob man es im Krieg in Israel also mit einer „Gaza-Nakba“ zu tun habe, bekräftigte Dichter den Vergleich. „Gaza Nakba 2023. So wird es enden“, sagte er.

Auch in Europa vollzogen politische Eliten wie auch der mediale Mainstream eine totale Kehrtwende. Der Kampf gegen die „rechteste Regierung Israels“, die monatelangen, mit unvermindertem Elan fortgeführten Demonstrationen gegen den „Justiz­putsch“ und die konsequente Unterstützung durch die liberalen Kräfte in Israel – all das war mit einem Mal vom Tisch. Nunmehr wird der israelischen Administration international beinahe uneingeschränkte Unterstützung von allen Seiten im Westen zugesichert. Dagegen werden das Eintreten für ein Ende der großflächigen Kampfhandlungen wie auch die Kritik an Israels antihumanitärer Totalblockade Gazas und die Warnungen vor einem Genozid undifferenziert unter den Generalverdacht von „Antisemitismus“ gestellt oder die Kritiker als „Hamas-Versteher“ kompromittiert. Demonstrationen zugunsten der Palästinenser wurden (und werden) behördlicherseits weitestgehend eingeschränkt oder ganz verboten.

  1. Der stille Genozid im Westjordanland

War in den seit 1967 besetzten Gebieten („Nakba 2.0“) sofort nach Einsetzung des Regierungskabinetts Netanjahu VI die systematische Vertreibung des palästinensischen Volkes in der Zone C (62 % des Westjordanlandes) eskaliert, so führte das allgemeine Klima „pro Israel“ und sein „Recht auf Verteidigung“ nach dem 7. Oktober zu einem nochmalig verstärkten Generalangriff der bewaffneten privaten Siedlermilizen im Westjordanland auf wehrlose, unbewaffnete Palästinenser, um sie gewaltsam und irreversibel von ihrem Land zu vertreiben und dieses selber in Besitz zu nehmen. Dies geschah wochenlang unter dem Schatten der militärischen Auseinandersetzungen um den Gazastreifen und unter dem Eindruck der am 7. Oktober zahllos ermordeten Israelis im Nahbereich der Grenze und der über 200 von Hamas verschleppten Geisel nach Gaza.

Erst in letzter Zeit sind auch Aufrufe zu vernehmen, die eskalierende Siedlergewalt im Westjordanland zu stoppen. Dass diese Appelle an die Adresse der israelischen Regierung erfolgen (etwa durch den US-Präsidenten), entbehrt nicht einer grotesken Ironie, ist es doch eben dieses religiös-rechtsextreme Regime, das diese Vertreibungen unter seiner Agenda, ein „araberreines Eretz Israel“ zu schaffen, aktiv vorantreibt (s. o.: "State business") und dieses für eine de-facto-Annektierung der Zone C günstige Zeitfenster zynisch ausnutzt. Mit anderen Worten: Diese Appelle vor der Weltöffentlichkeit dienen der Verschleierung der Tatsache, dass dieselbe rechtsextrem-faschistische Regierung, die dank 7. Oktober von einem Tag auf den anderen bequem aus der Schusslinie geraten ist, die wahren Verantwortlichen der eskalierenden Gewalt sind, die in der Westbank gegen Palästinenser gerichtet sind, aber auch gegen jüdische Menschenrechtler, die sie zu schützen versuchen.

  1. Kann dem Völkermord gegen beide Teile des palästinensischen Volkes noch Einhalt geboten werden?

Die Geschichte zeigt, dass die Akteure des militanten Zionismus niemals aus eigenen Stücken einen Rückzug antraten, ent­spricht es doch seiner Grundidee, zur „Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk“ ein möglichst großes Gebiet (Maxima­lismus) bei einer möglichst geringen nichtjüdischen Bevölkerung (Minimalismus) zu erobern. Nur wenn der Druck von außen oder – in seltenen Fällen – von innen gegen eine rabiat expandierende zionistische Politik zu groß wurde (etwa während des Libanonkriegs im August 1982, als die US-Regierung sogar die Androhung von Sanktionen gegen Israel erwog, oder, als Golda Meir Anfang Oktober 1973 die Atomwaffen gegen Ägypten aktivieren wollte) oder die Kosten dafür nicht mehr verhältnismäßig waren, steckte die israelische Administration nolens volens zurück. Aber auch das Bemühen um Wahrung des – vorgeblich demokratischen – Images konnte ein Kriterium dafür sein, eine aggressive Maßnahme zu stoppen oder zu revidieren.

Die wochenlange einseitige Fixierung der Weltöffentlichkeit auf Israels „Verteidigungskrieg“ gegen das palästinensische Volk in Gaza nach dem 7. Oktober ermöglichte die weitgehend unbeachtete Beschleunigung des Genozids im Westjordanland.

So vollzieht sich mit der „Nakba 3.0“ ein „epochaler Wendepunkt“ in zweifacher Hinsicht: in Gaza und im Westjordanland; sie wird – wenn überhaupt – nur durch massiven Druck von außen zu stoppen sein. Möge sich die Erkenntnis durchsetzen, dass der Wendepunkt unausweichlich zu einem Ende der Epoche gewaltsamer Unterdrückung eines ganzen Volkes führen muss.

Fritz Weber, am 19. November 2023