„Bethlehem 2000“ – eine Stadt mit zweitausendjähriger christlicher Tradition stellt sich vor
Für das Jubiläumsfest „Bethlehem 2000“ war die weltberühmte Stadt hübsch hergerichtet worden, um die Jahrtausendwende festlich an dem Ort zu begehen, wo der Anlass geschah, von dem aus wir unsere Zeitrechnung herleiten. Viele Staaten der Welt hatten dafür Gelder bewilligt, und die Stadt war 2000 so ausgeschmückt wie schon lange nicht. Die Stadt Köln als Partnerstadt Bethlehems in Deutschland hatte den Kölner Platz (unterhalb der Evangelischen Weihnachtskirche) mit einem Brunnen, Blumenkübel und Bänken hergerichtet.
Tod, Chaos und Zerstörung durch die israelische Armee
Doch zwei Jahre danach unternahm die israelische Armee (IDF) unter hohem Gewalteinsatz – häufig auch willkürlich und brutal gegen die palästinensische Bevölkerung – eine Invasion in Bethlehem (Operation „Defensive Shield“ 2002) und richtete in der Altstadt und bei der Belagerung zweier Kirchen große Zerstörungen an, als israelische Panzer durch die engen Gassen fuhren und parkende Autos überrollten. Israelische Soldaten beschädigten mutwillig Gebäude und Inneneinrichtungen von im Neubau befindlichen Einrichtungen wie dem Internationalen Begegnungszentrum bzw. Kultur- und Konferenzzentrum ‘Dar Annadwa’ und ‘Abrahams Herberge’, einem Gästehaus für Pilger und Touristen im benachbarten Beit Jala (Bait Dschala). So schossen sie in jede der eben gelieferten Porzellantoiletten hinein, so dass alle unbenutzbar wurden. Insgesamt betrugen die Zerstörungen mehrere hunderttausend Euro. Bis heute fehlen der Stadt die Mittel, um Straßen und Plätze wieder herzurichten.[1]
Dabei war es nicht das erste Mal gewesen, dass die IDF in Bethlehem eingerückt waren und Chaos, Tod und Zerstörung angerichtet hatten. Die Friedensaktivistin, Reiseführerin und Buchautorin Faten Mukarker war schon 2001 Augenzeugin in Beit Jala im Gouvernement Bethlehem gewesen (wo allein die Palästinensische Autonomiebehörde zuständig ist) und hatte den zehn Tage dauernden Terror der Israelis in ihren Aufzeichnungen festgehalten (19.-29. Oktober 2001).
Ihr Buch „Leben zwischen Grenzen – Eine christliche Palästinenserin berichtet“ (1998) ist in zahlreichen Auflagen erschienen und im Internet noch erhältlich.
Die „Segregation Wall“: Aus Bethlehem wird ein Gefängnis
Die weltbekannte palästinensische Künstlerin Samia Halaby aus New York war 2003 nach Bethlehem gekommen, um einen Kurs über Kreativität zu halten, und beschrieb die Situation, als die Stadt vom IDF-Militär belagert war:
„Der öffentliche Rückzug Israels im Juli 2003 war nichts anderes als medienbezogene Fehlinformationen. Die Belagerung wurde noch verschärft und brachte das Leben in BeitLahem [Bethlehem] fast zum Stillstand. Die Israelis stahlen auch das Land rund um die Stadt und bauten eine elektrifizierte Mauer, um die Belagerung dauerhaft zu machen. Die [jüdische] Siedlung Har Homa [östlich von „Checkpoint 300“] wurde auf dem gestohlenen Land des Berges Abu Ghuneim gebaut. Beachten Sie den imperialistischen Charakter seiner befestigten Architektur.“ [2]
Während dieser Zeit hat die israelische Besatzungsmacht das bis dahin gut besuchte 2-stöckige Anastas Guesthouse und dessen Holy Star Gifts Souvenir-Shop im Erdgeschoß an der „Hebronstraße“ (der ehemaligen Hauptstraße von Jerusalem nach Hebron) „eingemauert“: An drei Seiten rundum von einer acht Meter hohen Betonmauer umgeben (Segregation Wall), befand sich dadurch der Standort der christlichen Familie Claire & Johnny Anastas plötzlich im Abseits und ist nicht mehr vom benachbarten Ostjerusalem aus, sondern nur noch über eine Bethlehemer Nebenstraße erreichbar (Foto von der Straßeneinmündung), die unmittelbar hinter ihrem Gästehaus endet – als >>> Sackgasse. Die Jerusalem-Hebron Road hingegen wurde von den Besatzern zur rein jüdischen Straße umfunktioniert und zu diesem Zweck mit beiderseitigen Begleit- und Trennmauern versehen – zur „Abschirmung“ gegenüber den alteingesessenen Anrainern. Sie dient seither als befestigte Zufahrt (im Vergleich zu 1934) für Juden aus Jerusalem zu dem – der Legende nach dort vermuteten – Grab der Matriarchin Rahel („Rachel’s Tomb“), die von religiösen Juden als „Mutter des Volkes“ inbrünstig verehrt wird. Dieser Wallfahrtsort ist der drittheiligste Ort des Judentums und gilt als einer der Ecksteine jüdisch-israelischer Identität.
Der Sperrmauerbau, der seitdem das Leben in und um Bethlehem bestimmt, hatte zur Folge, dass Claires Familie vom benachbarten Haus ihres Bruders und seiner Familie (siehe Foto im Bauzustand) durch die beiden Begleitmauern der dazwischenliegenden Zufahrtsstraße zu „Rahels Grab“ doppelt getrennt wurde, das auch noch durch einen militärischen Wachturm (Israeli Military Base) „gesichert“ wurde. Um zueinander zu kommen (und die Kinder zur Schule), sind sie seither zu einem großen Umweg gezwungen, siehe die Karte mit dem Mauerverlauf (dicke schwarze Linie) und der Situierung des Anastas-Gästehauses sowie der Military Base und Rachel’s Tomb.
Mittels all dieser Barrieren, samt dem berüchtigten „Checkpoint 300“, der Bethlehem von Ostjerusalem trennt, wurde den Bethlehemitern der – seit 2000 Jahren Christentum – freie Zugang ins angrenzende arabische Ostjerusalem (wo zehntausende palästinensische Christ:innen leben) und seiner Altstadt unmöglich gemacht.[3] So wurden nicht nur die bestehenden sozialen Beziehungen gewaltsam unterbunden, der Würgegriff dieser Maßnahmen hat auch zum Niedergang von Fremdenverkehr und Pilgerstrom als wichtigster Einnahmequelle der Stadt geführt und die Lebensgrundlage Vieler zerstört, auch jener der Familie Anastas: Blicken sie im Obergeschoß ihres Hauses aus ihren Fenstern, haben sie nichts als Betonmauern vor Augen; stiegen sie – vom israelischen Militär untersagt – auf ihr eigenes Flachdach, würde von Scharfschützen der nebenan errichteten Military Base auf sie geschossen werden.
Ganz in der Nähe, auf der gegenüber liegenden Ecke der Military Base, steht das 2017 eröffnete Walled Off Hotel des weltbekannten anonymen Streetart-Künstlers Banksy, der durch seine politischen und sozialkritischen Illustrationen an der acht Meter hohen Beton-Sperrmauer auf die militärische Unterdrückung und Unfreiheit des palästinensischen Volkes aufmerksam gemacht und (2018) bildhaft die Öffnung der Trennmauer suggeriert hat. (Das hat ihm schärfste Kritik und den stereotypischen „Antisemitismus“-Vorwurf seitens der Israelis eingebracht.) Wenn aber dem Walled Off Hotel wegen der Sperrmauer an einer Fensterseite die „schlechteste Aussicht von allen Hotels der Welt“ nachgesagt wird, dann wird dieses zweifelhafte Prädikat von der noch schlechteren Aussicht des Anastas Walled-Inn Hotels auf die Betonmauer an drei Seiten überboten.
Viele Menschen der Bethlehemer Zivilgesellschaft haben geradezu herzzerreißende Lebensberichte auf Posters an der Segregation Wall angebracht. Sie werden vom „Sumud Story House“ des AEI-Centers (member of pax christi international) unter dem Motto gesammelt: „Die Mauer kann unsere Geschichten nicht aufhalten“.
Eine der berührendsten Stories daraus, „Love“, lautet:
“Mein Sohn hatte sich in ein Mädchen aus Jerusalem verliebt. Es war schwierig für ihn, weil er eine Genehmigung brauchte, aber sie konnte ihn hier in Bethlehem besuchen kommen. Er konnte keine Bewilligung bekommen, sie zu besuchen, selbst als sie krank wurde. Nach vier Jahren starb sie. Sie hat in ihrem Testament festgelegt, dass mein Sohn ihren Sarg bei der Beerdigung tragen soll. Er versuchte, eine Genehmigung dafür zu bekommen, aber diese wurde ihm verweigert. Er beschloss, ohne Erlaubnis nach Jerusalem zu fahren. Die israelischen Soldaten erwischten ihn, schlugen ihn schwer und steckten ihn für dreißig Tage ins Gefängnis. Er verpasste die Beerdigung. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und war zwei Jahre lang krank.” Ellen, aus Beit Jala [übersetzt]
Diese und viele andere Stories befinden sich entlang der Mauer am Ende der einzigen Zufahrtsstraße zum Anastas Guesthouse (dieses ist am Foto halb verdeckt im Hintergrund zu sehen). Sie weist als Straßenname – nicht ohne gewisse Ironie – „Wall Street“ auf (>>> Vergrößerung).
Auf diesem Foto ist auch eine Satire von Lush Sux in Anspielung auf Rick & Morty zu sehen: Opa-Rick hat sich in eine bedrohliche, furchterregende „illegale Grenzmauer verwandelt“.
Links neben dem „Love“-Poster haben Menschen aus dem niederländischen Gorinchem mit einer aufwändigen Darstellung ihres Dorfes und seiner Windmühle, übersät mit Dutzenden Unterschriften, ihre Solidarität bekundet:
„The people of Gorinchem greet you.
They say NO to the Separation Wall.
And they support the full rights of the Palestinian people.”
So hat die Bethlehemer „Wall Street“, die Straße der Apartheid-Trennmauer, viel zu erzählen – ergreifende Zeugnisse wie SILENT TRANSFER, THE WOUNDED und TRAUMAS und Malereien mit zum Himmel gerichteten Anliegen wie Joy, Peace, Hope, Love, Justice, Patience, Goodness, Kindness, Selfcontrol, Gentleness, Faithfulness…
Vor drei Jahren wurde auch noch die Homepage der Familie Anastas gehackt, über die man im Souvenirshop online bestellen konnte; nun ist sie nicht mehr verfügbar. Buchungen sind nur über ihre Facebook-Seite möglich. Es mutet an wie die Rache der unersättlichen Kolonisten dafür, dass die Familie Anastas, integriert in der arabisch-christlichen Community von Bethlehem, nicht Haus und Grundbesitz „für das jüdische Volk“ aufgegeben hat und nicht ausgewandert ist. Wohin denn auch? „We are here to stay“.
So bittet der Verfasser alle Menschen mit Gerechtigkeitssinn und Empathie, Claires eindrückliche Berichte zu lesen (übersetzt) und bekannt zu machen:
1. Claire Anastas – eine Christin aus Bethlehem
Inhaltsangabe: Dieser Bericht enthält nicht nur eine vielsagende Foto-Serie des Gebäude-Umfeldes, sondern auch eine Landkarte des Großraumes von Jerusalem mit der Darstellung der (schraffierten) Fläche zwischen der „Grünen Linie“ (der völkerrechtlich anerkannten Waffenstillstandslinie von 1949) und der bis weit östlich verlaufenden israelischen Sperrmauer, tief eingeschnitten in das Westjordanland. So entstand eine riesige Landfläche, die dem Staat Palästina und seiner Bevölkerung gewaltsam, völkerrechtswidrig und ungestraft entrissen und enteignet worden ist – auch entgegen den internationalen Vereinbarungen des Oslo-Vertrags der 1990er Jahre. Ein Ausschnitt dieser landräuberischen Einverleibung ist auf einer UN OCHA-OPT-Karte dargestellt: Der berüchtigte Checkpoint 300 („Checkpoint Gilo“ in Bethlehem) liegt 2 Kilometer von der Grünen Linie entfernt auf palästinensischem Land, unweit des Anastas Familienbesitzes.
2. Claire Anastas – „Wir sind eingesperrt, lebendig begraben in einer Gruft“
Obwohl die Städte Palästinas gemäß Oslo-Vertrag allein von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verwaltet werden (Zone A), marschierte das israelische Militär Ende März 2002 dort ein. Am 2. April, folgte der brutale Überfall auf Bethlehem.
In diesem zweiten, aufwühlenden Bericht über diese Zeit sind die Ereignisse, der Terror und die Zerstörungen durch die israelische Armee (IDF) aus der Sicht der Familie Anastas dokumentiert. Die Invasion war von der israelischen Politik betitelt: Operation „Defensive Shield“, wörtlich „’Verteidigungs’–Schild“, aber offiziell als Operation „Schutzschild“ bekannt gemacht.
Fritz Weber, Dezember 2021. Druckversion als >>> PDF.
[1] Davon berichtete Hans-Jürgen Abromeit (NRW) bei einem Vortrag am 5. November 2019 im Bonhoeffer-Zentrum in Bielefeld. In: „25 Jahre Dar -al-Kalima“, 2020, „Bethlehem heute“, S. 120.
[2] Zitat von Dr. Mitri Raheb in: „25 Jahre Dar -al-Kalima“, S. 16.
[3] Der Journalist und Reiseleiter Johannes Zang schreibt, dass der Anteil der Christen an der Bevölkerung vor 1948 fast 10 % betrug. Unter den weit über 700.000 Vertriebenen im Zuge der Gründung des „jüdischen Staates“ befanden sich zwei Drittel der palästinensischen Christenheit. Der Staat beschlagnahmte kirchliches Eigentum, konfiszierte Besitzungen wie die der Evangelischen Karmelmission am Berg Karmel, entweihte heilige Stätten und riss Kirchen wie die von Al-Birwa unweit von Akkon ab. Christliche Gemeinden in Städten wurden ausgelöscht, darunter die christliche Präsenz in Westjerusalem. Mit dem 6-Tage-Krieg, als das Westjordanland unter israelische Militärherrschaft geriet, kehrten erneut Christen ihrer Heimat den Rücken, so auch während der Ersten und Zweiten Intifada. Von 2000 bis 2002 verließen 60-70 Familien Bethlehem, schätzungsweise 300 bis 350 Menschen. (Nach Johannes Zang: „Erlebnisse im Heiligen Land. 77 Geschichten aus Israel und Palästina“, S. 138-139, ProMedia 2021).