Vorletzten Sonntag, dem 10. August tauchte auf dem Geländer der Reichsbrücke in Wien ein 55m langes Transparent auf. Darauf standen die Namen aller Palästinenser:innen, die im ersten Jahr von Israels Genozid in Gaza ermordet worden sind. Sie waren nach ihrem Alter am Tag ihres Todes aufgereiht – von 0 bis 101 –, eindringlich begleitet von Bildern palästinensischer Fotograf:innen, die die Schicksale der Menschen festzuhalten versuchen.

Neben dem Transparent hingen kleine Tafeln mit dem Titel der Aktion und einem QR-Code, der zu einer Website führte, auf der Informationen zum laufenden Genozid in Gaza standen. Die Aktion wurde von einer Gruppe namens art guerilla vienna konzipiert und trug den Titel If I must die – die erste Zeile eines Gedichts von Refaat Alareer, einem Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Universitätsprofessor und Aktivisten aus Gaza, der am 6. Dezember 2023 von Israel ermordet wurde. Fünf Wochen vor seinem Tod hatte er das Gedicht auf seinem Twitter-Profil veröffentlicht. Sein Name ist unter den 34.345, die eine Woche lang auf der Reichsbrücke hingen und die Betrachter baten: Sei Zeuge unseres Lebens!

Von der Notwendigkeit, Zeugnis palästinensischen Lebens abzulegen, handelt auch die wöchentliche Mahnwache, die LINKS seit knapp zwei Monaten in Wien organisiert. Unter dem Titel Write Their Names trifft man sich mal vor dem Parlament, mal am Reumannplatz und schreibt in stiller, persönlicher Meditation die Namen ermordeter Palästinenser:innen auf weiße Laken, die mit Klebeband auf dem Boden befestigt werden. Mit jedem Namen, vorsichtig von einer ausgedruckten Vorlage abgeschrieben, vermehren sich die Laken Woche für Woche. Sie breiten sich wie ein weißes Meer auf dem Asphalt aus und erzeugen eine stille Atmosphäre der Trauer und Andacht.

Vor den Laken, die an Leichentücher erinnern, sowie es auch beim Transparent der Fall war, wird einem die erschütternde, unbegreifliche Tragödie des Genozids, der Auslöschung, menschlich real. Trotz der eigenen Wucht, die unfassbare Zahlen innehaben, bedeutet ihre Aufschlüsselung in individuelle Namen keine Reduktion, sondern eine exponentielle Zunahme an Komplexität. Jeder Name, unter den Tausenden, steht für einen Menschen, der eine eigene Welt, ein eigenes Universum in sich getragen hat – und den es jetzt nicht mehr gibt. Diese Erkenntnis dringt ins Mark und wirkt als Impuls gegen die Entmenschlichung, die Palästinenser:innen von Geburt bis zu ihrem Tode – und auch weit darüber hinaus – als Teil unvorstellbarer Zahlen, widerwärtiger Aussagen und passiv gehaltener Medienberichte ihres Massenmordes erleiden. Ihre Namen sind eine Deklaration, ein Ausruf der Menschlichkeit jeder einzelnen Person, lebendig oder tot – jedes einzelnen Palästinensers und jeder einzelnen Palästinenserin in Gaza – und auch uns, hier in Österreich. Inmitten einer schweigenden Gesellschaft, appellierend an eine Regierung, die jenseits aller Worte agiert, begegnen wir uns selbst im Spiegel dieser Namen.

Für die Mahnwache am Schwarzenbergplatz am 14.08 hat LINKS mit PSÖ kooperiert. Sonja Gassner, Rames Najjar und Noura Hashem hielten vor dem Schreiben der Namen eindrucksvolle Reden, und zum Abschluss wurde die letzte Botschaft des al Jazeera-Journalisten Anas Al-Sharif aus Gaza in verschiedenen Sprachen vorgelesen. Es folgen Eindrücke und Reden von der Mahnwache.

  • Sonja Gassner, LINKS
  • Rames Najjar, PSÖ – greift das Gedicht „If I must die“ von Refaat Alareer auf.
  • Noura Hashem aus Palästina, Handala (Mitglied des Bündnisses Palästina Solidarität Österreich)
  • Sonja Gassner, LINKS

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