Hier im Land werden wir, die palästinensische Diaspora, gefragt, wie es uns nach dem Waffenstillstand im Gazastreifen geht. Welche Gefühle gehen in unseren Seelen um? Welche Ängste und Hoffnungen nehmen vor unseren Augen Gestalt an? 

Diese Fragen kommen meistens von Seiten, die uns über die letzten zwei Jahren nicht gesichtet haben, ja sogar unser Dasein nicht wahrnehmen wollten. Aber was soll es, uns ging es seit Jahrzehnten so. Unser Dasein wurde, wenn überhaupt als Störung, der idyllischen Landschaft der Erinnerungskultur wahrgenommen. 

Ein bloßes Element undefinierter Konturen, verblasste Retusche an der Leinwand des durch die dunkle Vergangenheit belasteten Gegenwart. Retusche, die man nicht loswerden kann, daher versucht man ab und zu sie sorgfältig abzubürsten, um die eigenen Gewissensbisse zu besänftigen. 

Ehrlich gesagt kam uns die Frage überraschend, denn wir hatten in den letzten zwei Jahren kaum Zeit, unsere sintflutartigen Gefühle zu untersuchen, geschweige denn zu verfolgen. Es war, als befanden wir uns im seelischen Tohuwabohu und psychologischem Wirrwarr. Emotionen, deren Art und Intensität sich ständig veränderten. 

Erst nach 734 genozidalen Tagen darf sich Gaza erholen und wir endlich etwas Luft schnuppern. Es ist auch Zeit, uns unseren Gefühlen zu stellen. 

Im Moment sind unsere Gefühle zwischen Trauer, Wut und Verbitterung hin- und hergerissen. 

Trauer um mehr als 67.000 getöteten, mehr als 169.000 verstümmelten Opfer (10% der Bevölkerung Gaza) die bloß in den Medien als angezweifelte Zahlen dargestellt wurden, wohl für uns Namen, Geschichten, Hoffnungen und Träume verkörpern. 

Trauer um die Zehntausenden, die sich noch immer unter den Trümmern befinden und die unzähligen Leichen, die im Freien liegen gelassen wurden, um von streunenden Hunden gefressen zu werden. 

Trauer um 20.000 unschuldige Kinder, die ein Leben vor sich hatten. 

Trauer um die Eltern, die jahrelang ungeduldig auf ihren ersehnten Neugeborenen warteten 

und ihre wertvollsten Besitztümer opferten, damit die Medizin sie zur Welt bringen konnte, um verzweifelt zu schauen wie sie mangel medizinischer Versorgung ihren unausweichlichen Schicksal zu übergeben. 

Trauer um die tausende WCNSF „Wounded child, no surviving family“ Kinder die alle Angehörige verloren haben, um alleine ungetröstet ihre körperlichen und seelischen Wunden zu heilen und sich ihrem ungewissen Schicksal stellen zu müssen. 

Trauer um die tausenden Kinder, Jugendliche, die lebensverändernde Verletzungen erlegen sind. Um zu sehen, wie ihre Träume dadurch in die Winde verwehen und ihre Ambitionen sich in die Luft auflösen. 

Trauer um die verwitweten Frauen, die trauernden Väter, die untröstlichen Großeltern und die traumatisierten Geschwister, die verzweifelt nach Antworten auf die Fragen: Warum? Wieso? Und womit haben wir das verdient? 

Wut auf die Welt, die machtlos zugeschaut hat, wie 200.000 Tonnen Sprengstoff auf 350 km2 dicht besiedeltes Konzentrationslager und ihrer wehrlosen Bewohner geworfen worden. 

Wut auf die Welt, die hilflos zusah, wie 125 Krankenhäuser und Kliniken unter dem erfundenen Vorwand, sie beherbergten Militäreinrichtungen, zerstört wurden. 

Wut auf die Welt, die sich gefallen ließ, wie Wasser, Nahrung, Strom und Medikamenten unseren leidenden Familien verweigert wurde. 

Wut auf die Welt, die die Bombardierung unserer Bildungsstätten, religiösen und kulturellen Einrichtungen, Infrastruktur und Lebensgrundlagen ohnmächtig beobachten musste. 

Wut auf die Welt, die paralysiert zusah, wie unsere Wohnstätten dem Boden gleichgemacht, ganze Stadtviertel ausgelöscht wurden und Millionen von uns in die Obdachlosigkeit vertrieben wurden. 

Wut auf die Welt, die kaum berührt wurde, als Tausende unserer Männer als Geiseln verschleppt, gedemütigt, gefoltert und sogar vor laufenden Kameras vergewaltigt wurden. 

Wut auf die Welt, die hilflos zusah, wie Millionen Menschen mehrmals gezwungen wurden, von einer von ihrem Henker bestimmten Sicherheitszone in die andere zu ziehen. 

Wut auf die Welt, die es zuließ, dass Warteschlangen humanitärer Hilfskonvois wenige Kilometer vom ausgehungerten entfernt blockiert wurden und sich stattdessen mit Hilfslieferungen durch protzige Luftabwürfe zufrieden gab. 

Wut auf die Welt, die die Privatisierung der humanitären Hilfe zuließ und stattdessen Söldner aus dem Wilden Westen anheuerte, die kaltblütig fast dreitausend hungernde Hilfesuchende niederschossen und über 19.000 Menschen verletzten, ganz im Stil der Hunger Games.. 

Verbittert hat uns die fehlende Solidarität, das mangelnde Verständnis und die irritierende Indifferenz großteils der Menschen im Lande. 

Verbittert hat uns die ungebrochene Solidarität der Politik mit dem völkermörderischen, kriminellen Schurkenstaat Israel und sich gleichzeitig gegenüber unseren unschuldigen Opfer, verschleppten Zivilisten und unserem Schmerz den Rücken kehrt. 

Verbittert hat uns die Instrumentalisierung der dunklen Vergangenheit, um den Schutz auf unseren jüdischen Mitbürgern zu beschränken, anstatt ihn auf alle Minderheiten auszuweiten. Sich nur den Antisemitismus entschieden entgegenzustellen, was auch unsere Aufgabe ist, anstatt sich jeder Form von Rassismus (einschließlich Islamophobie) entschieden entgegenzustellen 

Verbittert hat uns die Haltung unserer Regierung, die in der UN-Generalversammlung dreimal gegen einen Waffenstillstand, gegen die Kündigung des „Assoziierungsabkommens“ zwischen der EU und Israel und nicht für Sanktionen gegen Israel gestimmt hat. 

Verbittert haben uns die Lippenbekenntnisse zum Schutz der Menschenrechte und zur Einhaltung des Völkerrechts, die das palästinensische Volk aus der Menschheitsfamilie ausschließen. 

Verbittert hat uns die Schilderung der Situation im Gazastreifen, als wäre sie durch Naturkatastrophen hervorgeführt, und nicht durch gezieltes, vorsätzliches und systematisches Töten und Zerstören aller Lebensgrundlagen. 

Verbittert haben uns die Rufe nach Frieden, der die Sicherheit des Verbrecherstaat, Nuklearmacht Israel garantiert, statt nach Gerechtigkeit, die Verbrecher zur Rechenschaft zieht und vor Gericht bringt, die Würde der Menschen in Gaza (tot und lebendig) wiederherstellt und Frieden in der Region gewährleistet. 

Verbittert haben uns die Versuche, unsere Kinder in den Schulen in die Ecke zu drängen und unter dem Deckmantel der Pädagogik ihnen mit verstellten Informationen über den Konflikt zu vermitteln und sie mit Antisemitismusvorwürfen einzuschüchtern. 

Verbittert hat uns die polizeiliche Verfolgung der anti-genozidalen Aktivisten und die öffentliche Diffamierung der gewissenhaften Solidaritätsbewegung. Demonstranten, die ihrer Menschlichkeit friedlich Ausdruck verleihen wollen und sich nicht von Hasbara Sprachrohre verleiten lassen. 

Verbittert hat uns zu sehen, wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, akademische Freiheit und sämtliche bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt wurden, um die Solidarität mit unserem Volk zu unterdrücken. 

Verbittert hat uns die mediale Landschaft, die sich ihre Gebote der Professionalität, Integrität und wahrheitsgetreue Berichterstattung aufgeopfert hat, um in Diensten der israelischen Hasbara zu treten. 

Verbittert haben uns JournalistIn der öffentlichen und privaten Rundfunk, die aus ihren bequemen Hotelzimmern lediglich Pressemitteilungen der genozidalen israelischen Streitkräfte nachplappern und das Schrecken aus Gaza als KI-Produktion diskreditieren. 

Verbittert haben uns die Talkshows mit demagogischen Gästen, die keine sachlichen Argumente vortragen, sondern die Intelligenz der Zuschauer unterschätzen in dem sie jeder UN-Organisation, -SonderberichterstatterIn, -Kommission, Experte den Antisemitismus beschuldigt haben, sogar eingeladene Gäste einzuschüchtern versuchten. Manche haben versucht Hass und Hetze zu schüren indem sie antisemitische Beschuldigungen der dunklen Zeiten, die damals Juden vorbehalten waren, auf Muslime zu projizieren (Muslime in Spanien und Belgien kontrollieren die Regierungen und die manipulieren die Politik). 

Unsere Ängste werden durch unsere Trauer, Wut und Verbitterung zum Ausdruck gebracht. 

Angst um die düstere Zukunft unserer Familien und Angehörigen in Palästina. Es mag sein, dass die genozidale Vernichtungsmaschine vorübergehend zum Stillstand gebracht wurde, es ist eine Frage der Zeit bis sie in voller Wucht wieder gestartet wird. 

Angst, dass die Rechte unseres Volkes wieder der geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen dieser Welt geopfert werden. 

Angst und Unsicherheit über die Zukunft unserer Kinder vor der wachsenden Islamophobie, Ausländerfeindlichkeit, Hass und Hetze des Rechtspopulismus, der sich die mediale Sensationsgier und die politische Überbietung zunutze macht. 

Angst vor der zunehmenden Aushöhlung der bürgerlichen Freiheiten, die unsere Eingliederung in die Gesellschaft gefährdet und unseren Beitrag zu ihrem Wohlergehen bedroht, falls wir unsere Stimme in Solidarität mit unserem Volk erheben. 

Hoffnung ist unsere unheilbare Maladie. Wir können es uns nicht leisten, die Hoffnung zu verlieren. Wie unser großer Dichter Mahmoud Darwish sagte: 

„Hier an den Abhängen der Hügel, der untergehenden Sonne entgegen, 
am Schlund der Zeit, nahe den Obstgärten mit gestutztem Schatten, 
tun wir, was die Gefangenen tun und die Arbeitslosen: 
Wir nähren die Hoffnung.“ 

Von einem zutiefst enttäuschten Austro-Palästinenser